Der Boss
Unhöflichkeit empfinden. Wenn ich Politiker wäre, würde ich Janine jetzt sagen: »Nun, ich werde Ihr Angebot jetzt erst mal intern mit meinen Moral-Ausschüssen in aller Sorgsamkeit diskutieren und dann zu gegebenem Zeitpunkt mit einem Beschluss in die Öffentlichkeit treten.« Aber ich bin ja kein Politiker. Janine wird langsam ungeduldig:
»Na los – gib dir einen Ruck!«
Ich denke nach: Ich und Über-Ich gegen Es – das ist eine klare 2 / 3-Mehrheit. Der Fall ist also klar: Ich werde ›Nein danke‹ sagen und gehen.
»Äh … GV , das steht für …«
»Geschlechtsverkehr.«
»Ich hatte es vermutet, aber bei Abkürzungen bin ich immer vorsichtig – es hätte ja auch Garantie-Vertrag heißen können. Oder Grapefruit-Verzehr. Oder Gürteltier-Verein.«
Janine lacht höflichkeitshalber und streicht mir dabei erneut über den Arm. Okay, offenbar habe ich aus irgendeinem Grund nicht ›Nein danke‹ gesagt und bin auch nicht gegangen.
Stattdessen probt das Es einen Aufstand und versucht das Ich auf seine Seite zu ziehen – wobei es von Janine neue Argumente geliefert bekommt: Sie öffnet ihre Jacke ein wenig weiter und gibt einige Zentimeter mehr von ihrem BH frei, der durch das transparente Oberteil hindurchschimmert. Was dem Über-Ich wurscht ist. Eigentlich ist das Über-Ich ein ziemlich arroganter Schnösel mit seinen unerschütterlichen Prinzipien. Ein echter Moral-Streber. In der Schule hätten wir so jemanden mit nassen Schwämmen beworfen oder während des Unterrichts mit seinen eigenen Schnürsenkeln am Stuhl festgebunden. Irgendwie ist mir plötzlich das Es sympathischer. Der Kerl ist spontan und folgt seinen Instinkten – einer wie Lukas Podolski.
»Also, was läuft?«
Das ist jetzt meine zweite verpasste Hochzeitsnacht. Die erste habe ich mit Onkel Abdullah verbracht. Wäre es nicht eine Steigerung, wenn ich die zweite mit Janine verbringe?
»Äh, also 100 Euro?«
»Jep.«
»100 Euro … tja …«
Janine nimmt meine Hand:
»Na los – in meinem Bett ist es kuschelig warm. Deine Finger sind ja fast zu Eis gefroren.«
Plötzlich fällt mir ein, dass ich als Kind immer alles in Becher-Eis umgerechnet habe. Ich liebte Becher-Eis, vor allem das grüne: Waldmeister – hmmm, lecker! Oft habe ich so hastig gegessen, dass ich Kopfschmerzen bekam. Im Sommer durfte kein Tag ohne mindestens ein Becher-Eis vergehen. Deshalb war es bei fünf Mark Taschengeld in der Woche gar nicht so leicht, richtig zu kalkulieren – und Becher-Eis wurde zu meiner Währung. Ein Becher-Eis kostete 50 Pfennig, also waren eine Mark zwei Becher-Eis. Heute wäre ein Euro beim Kurs von 2 : 1 folgerichtig vier Becher-Eis.
»Also – was ist?«
Janines Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. Ich bin irritiert:
»100 Euro für Geschlechtsverkehr? Aber das sind ja 400 Becher Eis!«
Janine schaut mich mit einem irritierten Okay-jetzt-bist-du-kein-lustiger-Vogel-mehr-sondern-doch-ein-Freak-Blick an:
»Becher-Eis?«
»Ja, weißt du, als Kind, da habe ich immer …«
»Aber du bist jetzt erwachsen. Oder nicht?«
Sie hat recht. Ich bin erwachsen. Aber da gibt es einen kleinen Daniel in mir, und der ist heute traurig. Er ist zehn Jahre alt und möchte keinen Sex. Er möchte getröstet werden. Aber nicht von Janine.
Knapp drei Stunden später liege ich wach in meinem schicken Design-Hotelzimmer, das ein ambitionierter Innenarchitekt in ein Gründerzeithaus der Rosa-Luxemburg-Straße gezaubert hat. Nachdem ich Janine kopfschüttelnd zurückgelassen hatte, habe ich ohne ein einziges Gepäckstück im Hotel »Lux 11« eingecheckt, danach fast zwei Stunden lang geduscht, bis ich merkte,dass meine Haut schrumpelig war, anschließend im Pay TV den Film Kung Fu Panda geguckt, ohne ihn wahrzunehmen, und dann noch gute drei Stunden damit verbracht, Seiten aus der Zeitschrift Top Berlin zu reißen, daraus Flugzeuge zu falten und diese in den Papierkorb fliegen zu lassen.
Jetzt versuche ich, mit einer Entspannungsübung meiner Therapeutin den Schlaf zu finden:
Ich soll die Augen schließen und mir vorstellen, ich läge am Strand einer einsamen Insel unter Palmen – um mich herum plätschern die Wellen, und eine sanfte Brise milder Meeresluft umschmeichelt meinen Körper. Dieses schöne Bild kann ich etwa dreißig Sekunden lang genießen, dann tauchen die ersten Fragen auf: Wenn das eine einsame Insel ist, warum bin ich da? Bin ich das Opfer eines Flugzeugabsturzes wie Tom Hanks in Verschollen ? Gibt
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