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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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der Faust an die Scheibe schlug. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber sie konnte ihm die Worte von den Lippen ablesen.
    Ihr Koffer! rief er laut. Sie haben Ihren Koffer vergessen!
    Dame reagierte jedoch nicht darauf. Der Gesichtsausdruck des Engländers verwandelte sich von milder Besorgnis abrupt in blankes Entsetzen, als ihm klar wurde, daß die Frau ihren Koffer absichtlich zurückgelassen hatte. Er war mit einem Satz an der Tür und bemühte sich, sie mit beiden Händen aufzureißen. Aber selbst wenn es ihm gelungen wäre, jemanden auf sich aufmerksam zu machen und den Zug anzuhalten, hätte die verbleibende Zeit - eine Minute und fü nfzehn Sekunden nicht ausgereicht, um die Detonation des Sprengsatzes zu verhindern.
    Dame beobachtete, wie der Zug anfuhr. Sie wandte sich gerade ab, als der U-Bahnhof nur wenige Sekunden später von einer gewaltigen Explosion erschüttert wurde. Der Zug entgleiste, und eine glühend heiße Druckwelle brauste über sie hinweg. Dame bedeckte ihr Gesicht instinktiv mit beiden Händen. Über ihr stürzte das Tunnelgewölbe ein. Die Druckwelle riß sie von den Beinen. Einen Augenblick lang sah sie alles erschreckend klar vor sich - das Feuer, die herabbrechenden Betontrümmer und die Menschen, die wie sie selbst im feurigen Mahlstrom der Detonation gefangen waren.
    Das Ende kam sehr rasch. Sie wußte nicht, in welcher Lage sie zur Ruhe gekommen war; wie ein Taucher, der zu lange unter Wasser geblieben ist, hatte sie jedes Gefühl für oben und unten verloren. Sie wußte nur, daß sie unter Trümmern begraben war, keine Luft mehr bekam und auch keinen Teil ihres Körpers mehr fühlen konnte. Sie versuchte um Hilfe zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Ihr Mund begann sich mit ihrem eigenen Blut zu füllen.
    Ihre Gedanken blieben bis zuletzt klar. Sie fragte sich, wie die Bombenbauer einen solchen Fehler gemacht haben konnten, und in den letzten Augenblicken vor ihrem Tod fragte sie sich, ob es wirklich nur ein Fehler gewesen war.


    LONDON

    Innerhalb einer Stunde ordneten die Regierungen in London und Dublin eine der umfangreichsten polizeilichen Ermittlungen in der Geschichte Großbritanniens und Irlands an. Die britischen Ermittlungen wurden von Downing Street aus koordiniert, wo Premierminister Tony Blair sich ständig mit den zuständigen Ministern und den Leitern der britischen Polizei-und Sicherheitsdienste beriet. An diesem Abend trat der Premierminister kurz vor neun bei strömendem Regen aus der Tür von Nr. 10 vor die Reporter und Kameras, die darauf warteten, seine Äußerungen weltweit zu übertragen. Ein Mitarbeiter wollte seinen Schirm über ihn halten, aber der Premierminister schob ihn ruhig beiseite, und Sekunden später waren sein Haar und die Schultern seines Anzugs durchnäßt. Er äußerte seine tiefe Betroffenheit über die erschreckend zahlreichen Attentatsopfer - vierundsechzig Tote in Heathrow, achtundzwanzig in Dublin und zwei weitere in Belfast - und versprach, seine Regierung werde nicht ruhen, bis die feigen Mörder vor Gericht gebracht seien.
    In Belfast äußerten führende Politiker der großen Parteien - Katholiken und Protestanten, Republikaner und Loyalisten - sich empört über die Anschläge. Bevor genauere Informationen vorlagen, wollten sie nicht öffentlich darüber spekulieren, aus welchem Lager die Terroristen kamen. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit beschuldigten beide Seiten sich gegenseitig. Alle forderten zu Ruhe und Besonnenheit auf, aber noch vor Mitternacht randalierten katholische Jugendliche entlang der Falls Road, und auf der protestantischen Shankill Road wurde eine britische Militärstreife beschossen.
    Bis zum frühen Morgen des nächsten Tages hatten die Ermittler gewaltige Fortschritte gemacht. In London kame n Spurensicherer und Sprengstoffexperten zu dem Schluß, die Sprengladung sei im sechsten Wagen des Zugs nach Heathrow detoniert. Nach ersten Schätzungen hatte sie aus zwanzig bis vierzig Kilogramm Semtex bestanden. Am Tatort entdeckte Materialspuren ließen darauf schließen, die Bombe sei in einem schwarzen Nylonkoffer - vermutlich ein Modell mit Rollen - transportiert worden. Bei Tagesanbruch schwärmten Polizeibeamte entlang der Piccadilly Line zwischen Heathrow im Westen und Cockfosters im Nordosten aus, um auf allen Bahnhöfen Pendler zu befragen. Die Polizei sammelte knapp dreihundert Meldungen über Fahrgäste, die am Spätnachmittag auf dieser Strecke mit Koffern - darunter gut hundert mit

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