Der Botschafter
Shaw ausgestellt waren. Bevor er an den Tisch des Aufsehers trat, nahm er die Aktentasche von der rechten in die linke Hand.
»Bitte eine Tageskarte für den Lesesaal«, sagte er, wobei er darauf achtete, seinen harten Akzent aus West Belfast durch den sanfteren Singsang des Südens zu ersetzen. Der Aufseher schob ihm die Karte hin, ohne ihn auch nur anzusehen.
Master stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf, betrat den berühmten Lesesaal und fand einen freien Arbeitsplatz neben einem pedantisch wirkenden kleinen Mann, der nach Mottenkugeln und Leinsamenöl roch. Er öffnete ein Seitenfach der Aktentasche, zog einen schmalen Band mit gälischen Gedichten heraus und legte ihn lautlos auf die lederbezogene Tischplatte. Dann schaltete er die Leselampe mit dem grünen Glasschirm ein. Der pedantisch wirkende Mann blickte auf, runzelte die Stirn und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.
Ungefähr eine Viertelstunde lang gab Master vor, in seinen Gedichtband vertieft zu sein, während in Wirklichkeit seine erhaltenen Anweisungen wie Lautsprecherdurchsagen auf einem Bahnhof durch seinen Kopf hallten. Der Zeitzünder ist auf fünf Minuten eingestellt, hatte sein Führungsoffizier ihm bei ihrer letzten Besprechung mitgeteilt. Genug Zeit, damit du in aller Ruhe die Bibliothek verlassen kannst, aber nicht genug, daß der Sicherheitsdienst noch etwas tun kann, falls die Aktentasche jemandem auffällt.
Er hielt seinen Kopf gesenkt, den Blick starr auf den Text gerichtet. Alle paar Minuten hob er seine Hand und kritzelte etwas in sein kleines Notizbuch mit Spiralbindung. Um sich herum hörte er leise Schritte, das Rascheln beim Umblättern von Buchseiten, das Kratzen von Bleistiften auf Papier, diskretes Hüsteln und Schnüffeln - eine Folge des berüchtigt feuchten Dubliner Winterwetters. Er widerstand dem unheimlichen Drang, sich diese Menschen anzusehen. Er wollte anonym, gesichtslos bleiben. Er hatte nichts gegen das irische Volk, nur gegen die irische Regierung. Die Vorstellung, das Blut Unschuldiger zu vergießen, machte ihm keinen Spaß.
Er sah auf seine Armbanduhr - 16.45 Uhr. Unter dem Vorwand, einen weiteren Gedichtband herausholen zu wollen, griff er unter den Tisch, aber sobald seine Hand sich in der modrigen alten Aktentasche befand, ließ er sich einen Augenblick länger Zeit, bis er den kleinen Plastikschalter ertastet hatte, der den Zeitzünder aktivierte. Er legte ihn behutsam um und hielt den Kippschalter dabei sorgfaltig zwischen Daumen und Zeigefinger fest, um das Klicken zu dämpfen. Dann zog er seine Hand heraus und legte den zweiten Gedichtband unaufgeschlagen neben den ersten. Er sah erneut auf seine Armbanduhr, eine Analoguhr aus rostfreiem Stahl mit großem Sekundenzeiger, und merkte sich genau, wann er den Zeitzünder aktiviert hatte.
Dann sah er zu dem pedantischen kleinen Mann am Tisch nebenan hinüber, der seinen Blick so aufgebracht erwiderte, als habe er Freiübungen gemacht. »Können Sie mir sagen, wo die Toilette ist?« flüsterte Master.
»Was?« fragte der pedantische kleine Mann und bog seine rote Ohrmuschel mit dem abgekauten Ende seines gelben Bleistifts nach vorn.
»Die Toilette«, wiederholte Master, etwas lauter, aber noch immer flüsternd.
Der Mann nahm den Bleistift vom Ohr, runzelte nochmals die Stirn und zeigte mit der Bleistiftspitze auf einen Durchgang am anderen Ende des Lesesaals.
Während Master den Saal durchquerte, sah er wieder auf seine Armbanduhr. Erst vierzig Sekunden verstrichen. Er hinkte etwas schneller auf den Durchgang zu, aber fünf Sekunden später hörte er einen ohrenbetäubenden Knall wie einen Donnerschlag und spürte, daß der Gluthauch der Detonation ihn hochriß und wie ein welkes Blatt in einem Herbststurm durch den riesigen Saal wirbelte.
In London bahnte sich eine hochgewachsene Frau, die zu Jeans Trekkingstiefel und eine schwarze Lederjacke trug, ihren Weg durch das Gedränge auf dem Gehsteig der Brompton Road.
Hinter sich zog sie einen auf Rollen laufenden schwarzen Nylonkoffer mit einschiebbarem Griff her. Ihr Deckname war Dame.
Das über Irland und Schottland liegende Regengebiet hatte den Süden noch nicht erfaßt, und der Londoner Spätnachmittag war klar und windig: der Himmel im Westen in Richtung Notting Hill und Kensington rosa und orangerot, im Osten über der City bläulich schwarz. Es war für die Jahreszeit zu warm und drückend schwül. Dame ging rasch an den glitzernden Auslagen von Harrods vorbei und wartete mit anderen
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