Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
senkte das Stilett und nickte.
Bourne ging mit ihr hinaus und durch den Friedhof zu seinem Auto. Sie fuhren los, doch nach zwei Kilometern hielt er an und wandte sich ihr zu.
»Wenn Sie wissen, wohin Maceo Encarnación und Harry Rowland wollen, müssen Sie es mir sagen.«
Ihre großen kaffeebraunen Augen schauten ihn ohne Arglist an. »Werden Sie sie töten?«
»Wenn es sein muss.«
»Es muss sein«, sagte Anunciata. »Anders geht es bei den beiden nicht.«
»Sie kennen Rowland?«
Sie senkte den Kopf. »Er ist Maceos Liebling. Maceo behandelt ihn wie seinen Sohn. Er hat sich von klein auf um ihn gekümmert.«
»Wer sind seine Eltern?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, Rowland war ein Waisenkind, obwohl wir nicht miteinander sprechen. Maceo hat es verboten.«
»Ist Harry Rowland sein richtiger Name?«
»Er hat viele Namen«, sagte Anunciata. »Das gehört zum Mythos.«
Ihn überlief ein kalter Schauer. »Zum Mythos?«
»Maceo ist besessen von Mythen. ›Mythen schützen den Menschen‹, sagt er. ›Sie schützen uns, weil sie uns von anderen abheben. Ein Mythos macht einen zu mehr als einem normalen Menschen, er macht den anderen Angst.‹«
»Wie hat er den Mythos um Rowland geschaffen?«
Anunciata schloss einen Moment lang die Augen. »Es ist ein großer Mythos der Azteken, dass der Mensch geschaffen wurde, um die Götter zu ernähren. Wenn sie ihre Pflicht vernachlässigen, schicken die Götter Feuer zur Erde und zerstören alles, was die Menschen aufgebaut haben. Demnach ernähren sich die Götter von einem heiligen Stoff im menschlichen Blut.«
»Sie sprechen von den Menschenopfern.«
Sie nickte. »Die Aztekenpriester schnitten den Opfern das schlagende Herz heraus und boten es den Göttern dar.« Sie blickte einen Moment lang aus dem Fenster auf die Passanten hinaus: eine Frau mit einem Korb Früchten auf dem Kopf, ein Junge auf einem verbeulten blauen Fahrrad. »Aber das ist natürlich lange her.« Sie wandte sich ihm zu. »Heutzutage werden Menschen enthauptet.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das Blut ist das gleiche, und die Götter sind besänftigt.«
»Dieselben Götter ließen es zu, dass die Spanier Ihr Volk besiegten.«
Ein rätselhaftes Lächeln erschien in Anunciatas Mundwinkeln. »Wer kann die Absichten der Götter ergründen? Mexiko hat die Spanier überlebt. Wichtig ist, dass wir uns heute genauso bemühen wie die Azteken damals, das Schicksal im Griff zu behalten. Dass man den Mexikanern Jesus brachte, hat nichts daran geändert. Immer noch wird Blut vergossen, werden Opferungen durchgeführt. Das Schicksal und der menschliche Wille sind immer noch das Einzige, was zählt.«
»Was hat das alles mit Harry Rowland zu tun?«
»Er ist das Werkzeug des Schicksals.«
»Der unsichtbare Wegbereiter«, fügte Bourne hinzu.
Anunciatas Augen weiteten sich. »Sie wissen es. Ja, Rowland ist der Mann, der die Opferungen durchführt, die den Mythos vergrößern, ihn von den anderen abheben, die den Leuten Angst einjagen.«
»Er ist Nicodemo.«
»Ein Adler auf einem Kaktus mit einer Schlange in den Krallen, das ist das Wappen Mexikos«, erklärte Maceo Encarnación, während er Nicodemo in dem breiten Ledersitz seiner Bombardier Global 5000 gegenübersaß. Sie waren bereits eine Weile unterwegs. »Diese beiden Geschöpfe stehen im Zentrum der mexikanischen und der aztekischen Kultur. Der Kriegs- und Sonnengott hat den Azteken prophezeit, sie würden einen Adler erblicken, der eine Schlange zwischen Krallen und Schnabel hält, und dort sollten sie ihre große Stadt gründen. An diesem Ort errichteten sie Tenochtitlán, und Jahrhunderte später ging daraus Mexico City hervor.«
Maceo Encarnación betrachtete Nicodemo, der es hasste, belehrt zu werden, und wartete auf seine Reaktion. »Ich erzähle dir diese Geschichte, Nicodemo, weil du nicht von hier bist, als Kolumbianer«, fuhr er mit seiner gewohnten stoischen Ruhe fort. Der Angesprochene schwieg weiter, sodass er hinzufügte: »Wir lernen, zu verschlingen, um nicht selbst verschlungen zu werden. Ist das nicht die grundlegende Wahrheit der Welt?«
»Ja«, stimmte Nicodemo schließlich zu. Die Erwähnung des Todes hob ihn immer aus seiner dunklen Stimmung. »Ich hätte den Azteken zu gern selbst getötet.«
»Tulio Vistoso war der Verräter, er hat die dreißig Millionen gestohlen.« Maceo Encarnación lachte leise. »Nur habe ich die Geldbündel im letzten Moment ausgetauscht. Wirklich amüsant, aber nicht für ihn. Er hat die
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