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Der Brennende Salamander

Der Brennende Salamander

Titel: Der Brennende Salamander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bayer
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wir inzwischen schon weitergereist waren in unseren Gedanken. Und so grausam esauch klingen mag, all das, was mit dem Ospedale zu tun hatte, berührte uns nicht mehr besonders – so schien es uns zumindest in diesem Augenblick.
    Wir waren abgenabelt. Mit diesem Tag für immer.
    Und vermutlich würde die pila eines Tages auch für uns nichts anderes mehr sein als ein exotischer Gegenstand, von Fremden mitleidig betrachtet. Oder noch weniger: Alltag, der zum Leben dazugehört.
    Die nächsten Wochen vergingen in einem seltsamen Gefühl der Leere und der Unruhe zugleich. Tagsüber verrichtete ich mit aller Sorgfalt meine Arbeit, schob mit den anderen zusammen mächtige Farbkübel an den richtigen Platz in der Halle, rührte in großen Holzbottichen Farben an und schwenkte die Stoffbahnen mit Hilfe einer Winde in den Behältern hin und her. Später wuchtete ich sie wieder heraus, stemmte sie auf hohe Gestelle zum Trocknen hoch, und dann begann alles wieder von vorne, so daß ich mich bald fragte, ob so eigentlich der Rest meines Lebens aussehen würde.
    Nach der Arbeit empfand ich mich in einem unwirklichen Zustand, aus der Welt herauskatapultiert, und wußte nichts mit mir anzufangen. Ich kam mir vor wie in einen tiefen Krater hinabgestoßen, ohne zu wissen, wie dies geschehen war. Ich empfand ein Loch, ein doppeltes Loch: Ich gehörte nicht mehr zu den Kindern des frate noch zu den innocenti. Und dies gab mir das Gefühl, längere Zeit im bargello eingesperrt verbracht und den Anschluß an ein normales Leben verpaßt zu haben.
    Und vermutlich wurde mir auch jetzt erst richtig bewußt, was ich, was wir mit dem Tod von Savonarola verloren hatten: Es gab keine Umzüge mehr, bei denen achttausend Kinder durch die Stadt marschierten, keine weißen Gewänder, keine Olivenzweige auf unseren Köpfen, keine Aufgaben, die es zu erfüllen galt, Aufgaben wie Almosensammeln oder die Errichtung des talamo, dieMut erforderte. Und vielleicht das Schlimmste von allem: Wir Jungen waren wieder zu dem geworden, was wir immer waren und was man uns gnädigerweise für einen kurzen Zeitraum hatte vergessen lassen. Wir waren in die Bedeutungslosigkeit zurückgestoßen worden. Es gab niemanden mehr, der sich vor uns fürchtete, niemanden, der uns achtete, niemanden, der uns bewunderte, uns gehorchte – die Kinder des frate waren obdachlos geworden, hatten ihre Bleibe verloren. Und die wenigsten Erwachsenen bedauerten das. Ich nehme an, den meisten war recht, daß alles so gekommen war und die Signoria wieder allein bestimmen durfte, was in unserer Stadt zu geschehen hatte. Die Macht der Kinder schien für immer gebrochen, nachdem man ihnen über vier Jahre hinweg alle Freude am Leben zu nehmen versucht hatte: Nicht einmal harmlose Kinderspiele waren erlaubt gewesen, Esel- und Pferderennen durch Bittgänge ersetzt worden und besagten Korb mit Karnevalsbrezeln hatte man wegbringen lassen, da man sie für sündig erachtete.
    Es war also ein doppeltes Loch, in das ich gefallen war. Nach dem Abschied vom strengen Geborgensein bei den ›Kindern des frate ‹ vermißte ich nun die warme Kuhle der innocenti. Ich hatte keine Freunde mehr. Nicht einmal mehr Rocco, weil dieser gleich zu Beginn seiner Arbeit mit seinem Meister irgendwo bei Lucca einen Auftrag ausführen mußte. Briefe schrieben wir natürlich nicht, Briefe hätten Geld gekostet. Einmal erfuhr ich von einem jungen Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, daß es Rocco gutgehe und er große Freude an der prospettiva habe, was mich damals nicht sonderlich beeindruckte, da ich zu jener Zeit noch kaum wußte, was diese prospettiva bedeutete.
    Abends lag ich meist ziemlich früh in meinem Bett, auf einem klumpigen Strohsack, von dem ich hoffte, ihn eines Tages gegen einen besseren austauschen zu können. Ich brütete stumpf vor mich hin, vermißte seltsamerweise die Schlafgeräusche meiner Zimmergenossen, die mich früher immer gestört hatten. Manchmal versuchte ich auch, mich an all das zu erinnern, das wir unter Savonarola erlebt hatten. Ich rief mir seine Predigten in Erinnerung, die er jeden Sonntag im Dom vor zehntausend Menschen gehalten hatte, vergegenwärtigte mir seine Visionen und prophetischen Vorhersagen, summte die Melodie der Wechselchöre, die wir gelernt hatten, identifizierte mich voller Inbrunst mit dem verwahrlosten Volk, zu dem er uns abgestempelt hatte und das voller Gläubigkeit auf ein besseres Leben nach dem Tod hoffte. Wenn es mir ganz schlecht ging, lief ich in der

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