Der Briefwechsel
ja seine nächste große Arbeit ein ›dicker‹ Österreich-Roman werden wird. Über mehrere Stunden hin, in seiner Wohnung, in einem Restaurant und dann sitzend im Bois de Boulogne unter Tausenden von Franzosen, die den schönen Sonntag zu Familienausflügen benützten, sprachen wir über das neue Manuskript. Er hatte sein Manuskript mit, auf dessen Titelblatt mit Hand geschrieben und mit einer Zeichnung [rote Filzstiftzeichnung von Gladiolen in einem Tongefäß] der Titel des Manuskripts geschrieben stand. (Handke will überhaupt jetzt zu zeichnen beginnen.) Wir gingen Seite für Seite durch. Es war ein angenehmes Arbeiten. Wenn ihm eine Kritik einleuchtete, war er sofort bereit, zu ändern, bei ganz wenigen Stellen (so bei der ›Liebeserklärung‹, gegen die Frau Borchers ja große Bedenken hatte) bestand er eigensinnig, hartnäckig, ja aggressiv auf seinen Formulierungen (wir haben dann doch noch einige Änderungen gemacht), bei einigen wenigen Stellen sagte er, wir sollen das doch lassen, die Kritiker sollen ja auch noch etwas zu kritisieren haben. Er las mir dann die Stellen vor, die er von sich aus geändert hatte; in vielem traf das mit unseren Korrekturvorstellungen zusammen. Er fand in den ›Wahlverwandtschaften‹ eine Passage, die er unbedingt, jedoch für den Schluß, als Motto vorsehen wollte: ›So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch
302 in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede wäre.‹ [P. H., Die linkshändige Frau , S. 133.] In der Tat, ein für Handkes Erzählung sehr treffendes Zitat. Immer wieder sprachen wir über den Titel. Ich wehrte mich gegen ›Die linkshändige Frau‹. Der Titel schien mir nicht motiviert vom Text her, da dort eine linkshändige Frau nur als Titel einer Schallplatte vorkam. Daraufhin schrieb Handke ein Gedicht ohne Titel, das den Verrat einer Linkshänderin schildert, ein übrigens sehr schönes Gedicht [ Die linkshändige Frau , S. 101f.]. Meine anderen Titelvorschläge leuchteten ihm nicht ein. ›Diese Art Liebe‹. ›Nachwinter‹. ›Das tägliche Leben‹. Wir legten dann eine Gedächtnispause ein und trafen uns eigens des Titels wegen am Dienstag noch einmal. Er empfing mich gleich mit dem ›Proust-Album‹ in der Hand und las mir jene Antworten Prousts vor, die er noch als Jugendlicher in einen Fragebogen eingetragen hatte: «Welche Eigenschaften schätzen Sie bei der Frau?» Proust: «Sanftmut, Natürlichkeit, Intelligenz». [ Das Proust-Album. Leben und Werk im Bild (Original: 1965). Zusammengestellt und erläutert von Pierre Clarac und André Ferré. Deutsch von Hilda von Born-Pilsach, Suhrkamp Verlag, S. 99ff.] Handke fand das großartig. Das sei ganz seine Meinung. Und dann unterstrich er die Antwort auf die Frage: ›Wo möchten Sie leben?‹ Proust: ›Im Land des Ideals‹. Das sei der Titel. Ich war damit einverstanden. Er verspricht mehr, als die Erzählung hält, aber von den Lebensträumen aller Figuren handelt ja in der Tat auch die Erzählung.« Nachtrag: »Am liebsten würde er den Umschlag seiner Erzählung selbst zeichnen und grau in grau. Ich habe ihm das ausgeredet. Aber er wünscht sich ein broschiertes Buch, nicht glänzend, möglichst grau. Die Schrift der ›Stunde der wahren Empfindung‹ und wenn es irgend geht die Zeichnung von Günther Knipp mit dem Titel ›Haltestelle‹, die ich mitgebracht habe und die für Herrn Staudt beiliegt. Er möchte auch das Foto verwendet sehen, das in ›La Quinzaine Littéraire‹ veröffentlicht wurde (Ebenfalls für Herrn Staudt anbei). Und noch ein Hinweis von Handke: in dem neuen Heft der ›manuskripte‹ ist ein Text von Henning Grunwald abgedruckt. Wir hatten dieses Manuskript ja einmal hier und wegen seiner weitläufigen grausligen Kompliziertheit nicht gebracht. [Henning Grunwald, Der Drehkäfig , in: manuskripte , Heft 41, 1973, S. 44-48] Handke empfiehlt uns das sehr.«
303 [241]
[Paris]
26. April 1976
Lieber Siegfried,
Frau Zeeh hat mir einen Kurzen Brief geschrieben, dass nun alles in Ordnung geht. Ich bin froh und erleichtert darüber. 1 Ich schicke Dir noch zwei kleine Änderungen der Geschichte mit, damit es dann bei den Fahnen keine Schwierigkeit gibt. Die erste ist eine Einfügung ziemlich am Anfang, wo die Frau, nach der Trennung von Bruno, das Kind zur Schule bringt, und sie
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