Der Briefwechsel
Natur als Harmonie, Vorformen und Vorzeitformen
358 der Landschaft. Dann, im zweiten Teil, das ›Raumverbot‹, der Besuch bei den Freunden, die auf dem Campus einer kalifornischen Universitätsstadt, einer Mischung aus San Francisco und Stanford – Los Angeles – San Diego, leben. Einmal sah er seines Nachbarn Frau in einem Verkehrsbus, er wollte sich bemerkbar machen, doch es war schon zu spät. ›Und da geschah es, daß Sorger, unbeobachtet unter freiem Nachthimmel, durch und durch errötete; und das war seit langem das erste, was er als «sich selber» erlebte.‹ Hier beginnen deutlich diese Stadien der Erkenntnis des eigenen Ich, der Umwelt, Heimat, Heimatlosigkeit, Räume und Raumverlust, dann wieder Heimatlosigkeit. ›Für mich gibt es niemanden.‹ Trennungsschmerz. Und dann das Wort ›Raumverbot!‹: ›Du bist allein, deine Arbeit ist Fälschung … du gehörst nicht mehr zur Welt.‹ Dann der Abend der Selbstvergewisserung mit dem österreichischen Nachbarn und mit den Vokabeln gütig, schön, Familie, Heimatlichkeit, Liebe. ›Die «Höflichkeit», den Bewohnern seines Herkunftslandes überlicherweise zugeschrieben (ihn hatte sie, wenn sie vor ihm bestätigt wurde oft befremdet und war ihm jedenfalls nie tief gegangen) – an diesem Abend war sie als Begeisterung für die anderen in ihm selber wirksam und erzeugte so die Idee eines «Landes», die der Höfliche verkörperte und in deren Gestalt er sich ganz weitergab.‹ Hier zumindest werden die Österreicher begeistert sein. Und dann der dritte Teil, die Räume. Er fliegt von der Westküsten-Stadt ab, besucht noch einen Freund in Denver, der aber tot war, und dann New York. Großartige New Yorker Szenen und schließlich im Coffee-Shop das Erlebnis des Gesetzes. S. 236: ›Ein anonym vorgeschriebenes Gesetz, das ihm Schwung gab, eine friedenstiftende Gegenwart dauerhaft machte.‹ Dann S. 124: ›Die Zeit, als rege sich die Göttin im Faltenwurf. Dann schrieb Sorger das Gesetz auf, seinen geschichtlichen Augenblick, was er als Geschichte empfand, sein Jahrhundert, ein Hochgefühl nicht meiner, sondern menschlicher Unsterblichkeit. Ich glaube in diesem Augenblick: indem ich ihn aufschreibe, soll er mein Gesetz sein.‹ Auf S. 123 war zu lesen: Er stellte sich ›die Zeit als einen Gott vor, der gut war.‹ Und dann die Wendung zu sich und zum anderen. Das Epos, das natürlich an die ›Göttliche Komödie‹ und ›Gilgamesch‹ und andere heilige Dichtungen erinnert, endet in einem Gedicht, das ganze sei ja auch ein Gedicht, meint er. Noch am
359 Abend, Hilde [Unseld] läßt uns allein, allgemeine Diskussion. Ja, es sei für ihn Lyrik, mehr als Literatur. Nicht Literatur als Form eines Gebetes, als Botschaft, als Aussage, als Ausruf. Ich komme immer wieder auf den Titel zurück. Als ich einige Mitarbeiter am Vormittag gefragt hatte, was ›Raumverbot‹ bedeutete, lauteten die Assoziationen ›Volk ohne Raum‹, Orwells ›1984‹, Rauchverbot, Verbot von Raumfahrt, Verlust der Dreidimensionalität, Verbot von Weltraum. Er, Handke, verweigerte eine Interpretation und fragte mich nach anderen Titeln. Ich schlug vor: Zeitfall – Avenue der Gegenwart – Das kurze Kreisen der Räume – Wiederkehr – In ähnlicher Weise – Raumvertrautheit – Raumflucht – Raumereignis – Zeiträume selbstloser Zuneigung – Im Spiel der Welt – Einige Sonnenaufgänge später. Meinen eigentlichen Titel nannte ich ihm nicht, aber er sah meine Aufzeichnung: ›Das Gesetz‹. Das beeindruckte ihn. Am Sonntagmorgen sprachen wir dann im Detail das Manuskript durch, zwei Stunden. Ein sehr gutes Gespräch, er bedankte sich für meine Einwände, die er beachten wolle.
Dann Spaziergang im Taunus, Mittagessen im Schloßhotel, dem Ausgangspunkt der ›Linkshändigen Frau.‹ Ganz klar stand das Buch im Mittelpunkt des Gesprächs. Er sagte, man muß Mut haben, wieder Glück zu formulieren. Auch Gnade (Seite 100, 151); ich kreide sein ›Gnade. Oder?‹ an. Man müsse auch den Mut haben, sagen zu können, ich brauche dich, du bist ein Teil von mir. Und ich selber bin verantwortlich für andere. Immer wieder der Titel. Er hatte früher an folgende Titel gedacht: Die Zeit und einige Räume – Und: Fähigkeit zum Ausruf – Ist es ein Weltgesetz, das mich leitet? Immer wieder sprach er von Sorgers Mythos: jetzt oder nie. Aber das war ihm zu direkt. Schließlich wollte ich ihn noch einmal auf eine Definition von ›Raumverbot‹ festlegen. Er sagte, man
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