Der Briefwechsel
mir mit seinem ›Haß‹ auf Musikologen. Musik könne man nur hören, wer über Musik rede oder schreibe, sei nur geschwätzig. Ich hielt das wieder für typisch österreichisch, indem ich darauf hinwies, daß es eine Kritik in Österreich eigentlich nicht gäbe, das hätten am Abend Spiel und Kruntorad geklagt und darauf hingewiesen, daß eine neue Zeitschrift erscheinen sollte, die ›Kritik‹ heiße. Dann seine Eröffnung: er habe jetzt in den letzten zwei Monaten eine neue Erzählung geschrieben, das Nachfolgestück zur ›Lehre der Sainte-Victoire‹, damit sei der Komplex ›Langsame Heimkehr‹ abgeschlossen. Er brachte mir das Manuskript, 25 engst-beschriebene DIN A 4-Seiten, was sicherlich 100 Druckseiten ergibt. Korrigiert, schwer lesbar. Während er Tee und später Kaffee zubereitete, las ich im Manuskript ›Kindergeschichte‹. Das Manuskript war datiert ›9. Juni bis 22. Juli mittags zwölf Uhr‹. Motto von Thukydides: ›Damit endete der Sommer. Im darauffolgenden Winter …‹. Es ist die Geschichte der Geburt und der ersten zehn Jahre eines Mädchens. Ein Erwachsener schildert diese Geschichte. Schon immer hatte dieser Erwachsene die Traumvorstellung eines Kindes gehabt. Insgesamt hatte dieser Erwachsene drei Zukunftserwartungen: Kind, eine Frau, die sich in geheimen Kreisen auf ihn zubewegte, und einen Beruf, ›in dem allein ihm die menschenwürdige Freiheit winkte‹. Diese Erzählung habe er jetzt schreiben müssen. Sie hat keinen direkten Bezug zur ›Langsamen Heimkehr‹, noch zur ›Lehre der Sainte-Victoire‹, aber er will diesen Bezug herzwingen. Er könne gar nicht anders, als mit dem äußersten poetischen Einsatz diese Erzählung geschrieben zu haben. Noch sei Amina ein Kind, aber schon während er dies schriebe, sei sie es nicht mehr. Wir erhalten das Manuskript Mitte September, Erscheinungstermin dann März/April 81. Die Ausstattung wird er sich noch überlegen. Handke wird am 17. August zu einer Wanderung aufbrechen, ich habe ihm versprochen, daß er spätestens bis 5. August die Aushänger der ›Lehre der Sainte-Victoire‹ erhielte. Diesen Aushänger wird er noch einmal genau kontrollieren. Dann unterzeichnete er den Vertrag für ›Die Lehre der Sainte-Victoire‹. Freundliche Stimmung, er trinkt seinen Wein, ich meinen Tee. Er mokiert sich über meine Antwort im FAZ - Fra
414 gebogen ›Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?‹ und meine Antwort: ›Treue‹ [siehe Brief 313, Anm. 1]. Das sei doch sehr schwierig, und er schüttelt immer wieder den Kopf darüber. Kritik an den jungen Autoren der ›e. s.‹, an jungen Autoren überhaupt. Keiner hätte eine notwendige Schreibe, irgend etwas, was ihn anginge, was er geschrieben haben wolle. Der Name Thomas Bernhard fällt nicht, auch der von Reich-Ranicki nicht. Durchgehen der ersten zwanzig Titel der ›e. s.‹. Langes Gespräch über Octavio Paz. Er hat Vorbehalte gegenüber der Dichtung, sie sei ihm zu gemacht, und gegenüber den Essays: sie seien zu ›genial‹ geschrieben. Er liest mir Octavio Paz' Pessoa-Essay vor. Paz: ›Nichts in Pessoas Leben ist außergewöhnlich.‹ Handke: Das ist Quatsch. Alles Leben ist außergewöhnlich. Sehr schön seien in diesem Essay die Zitate von Pessoa, ja, Pessoa sei ein Dichter. [O. Paz, Essays , S. 168] Also sein Plan: sorgfältige Niederschrift der ›Kindergeschichte‹, dann sein Wandern in Jugoslawien und Triest, mögliches Treffen Anfang September in Venedig. Und dann wolle er ein Stück schreiben, ja, ein großes Drama. Wir bekämen das im Frühjahr. Unsere Stimmung steigerte sich, aber dann kam sein Schlag: danach wolle er wieder Tagebücher schreiben, Journale, für Residenz! Kein Schweigen, ich bat ihn, dies doch noch einmal zu bedenken, und er wollte dies auch tun, denn das habe ja noch Zeit, das dauere ja mindestens noch ein Jahr, bis er damit beginne. Dann saßen wir wieder auf dem Boden, sprachen dies oder jenes oder schauten den Katzenjungen zu, die sich in seinem Zimmer herumbalgten. Ich mußte an jenen Satz denken, den wir einmal als Motto einem ›Morgenblatt‹ [Werbe-Zeitung des Suhrkamp Verlags zwischen 1952 und 1959: Morgenblatt für Freunde der Literatur ] gegeben hatten: ›Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer sagt mir dann, ob sich die Katze ihre Zeit mit mir vertreibt oder ich mit ihr.‹ (Montaigne)«
2
P. H., La femme gauchère , übersetzt von Georges-Arthur Goldschmidt, erschien 1978 bei Gallimard, Paris, in der Reihe Du monde
Weitere Kostenlose Bücher