Der Briefwechsel
Schreckens, der Angst, der Verfolgung, der Folterung, des Sterbens und des Tötens übernommen – das Mordgeschichtenthema – und dazu meine Reflexe und Reflexionen notiert, und zwar in diesem Schema, im Ablaufschema der Mordgeschichte, die eben der Vorwand ist und keineswegs zum Beispiel denunziert werden soll. Es hat mich interessiert, mich mit den Schemata des Schreckens zu beschäftigen, die üblichen unreflektierten Darstellungsweisen des Schreckens zu untersuchen, die ja unbewußt entstehen und in dem Überdenken dieser Schemata des Schreckens den wirklichen Schrecken zu zeigen.«
58 1967
[39; Anschrift: Düsseldorf-Unterrath]
Frankfurt am Main
6. Januar 1967
Lieber Herr Handke,
ich war einige Tage verreist und konnte erst jetzt meine Arbeit aufnehmen. 1 Ich darf Ihnen den Eingang des Manuskriptes »Der Hausierer« bestätigen. Ich nehme an, daß ich Ihnen Ende Januar ausführlich darüber schreiben kann.
Zuerst meinen Glückwunsch zum Abschluß des Manuskripts.
Schönste Grüße,
auch für die Freundin,
Ihr
[Siegfried Unseld]
1
S. U. verbrachte zwischen dem 22. Dezember 1966 und dem 5. Januar 1967 mit Martin Walser einen Skiurlaub.
[40]
[Düsseldorf-Unterrath]
27. Januar 1967
Lieber Herr Doktor Unseld,
Chris Bezzel schreibt mir, daß er mein Manuskript nicht lektoriere und nicht lektorieren werde, weil er von Ihnen aufgrund Kontaktmangels zu Ihnen und zu den Autoren gekündigt worden sei.
59 Ich bin etwas deprimiert über diese Entwicklung, ohne daß ich mir anmaße, etwas über die Hintergründe von Dr. Bezzels Entlassung zu wissen, denn Kontaktmangel zu den Autoren kann nicht der Grund sein. Ich bin deswegen etwas traurig und erschrocken. Mein Brief ist keine Einmischung, denn ich bin Beteiligter. Chris Bezzel, obwohl er mir persönlich kaum ähnlich ist und auch anders arbeitet als ich, ist doch in Ihrem Verlag, neben Dr. Braun, der einzige gewesen, mit dem ich über meine Sache intensiv habe reden können. Er hatte die nötige Sensibilität und Intelligenz, auch die Toleranz, sich mit meinen Arbeiten auch produktiv zu beschäftigen, und ich hoffte, er hätte das auch diesmal tun können.
Die Literatur wird sich weiterentwickeln, sie kann nicht so fortexistieren wie im Augenblick in Deutschland, wo es einen Rückschlag in einen trivialen Realismus gibt: um weiter der progressivste Verlag zu bleiben, wird sich der Suhrkampverlag den Verlust von Lektoren wie Dr. Bezzel auf die Dauer nicht leisten können.
»Das Einhorn« ist ein Rückschritt, leider auch die »Zwei Ansichten«, von Max Frisch ganz zu schweigen, auch Peter Weiss ist nicht mehr der großartige Schriftsteller des »Gesprächs der drei Gehenden« und des »Schattens des Körpers des Kutschers«, die für die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf Zeit viel wichtiger sind als die engagierten Stücke. 1 Die Zeit der engagierten Literatur ist vorbei, es kommt eine Zeit der Reflexion, hoffe ich, eine Zeit des Nachdenkens über Denkschablonen, vielleicht ein sprachlicher Realismus statt eines beschreibenden.
Ich will nicht weissagen, aber ich meine, daß es über kurz oder lang so kommen muß, mag diese Literatur bis jetzt auch finanziell noch nicht profitabel sein, und da werden Sie Leute wie Chris Bezzel nicht missen können, der sich, wie ich weiß, auch sehr um unbekannte junge Autoren ge
60 kümmert hat und ihnen schrieb, wenn er nur eine Kleinigkeit in einer kleinen Zeitschrift las. 2
Aber vielleicht sind Ihre Gründe ganz anders. Ich wollte Ihnen nur meine persönliche Betroffenheit zeigen. Ich schreibe ohne Zorn, aber ich bin bei der Sache. Und ich würde mich freuen, könnten Sie mir ebenso antworten.
Herzlich
Ihr
Peter Handke
1
Martin Walser, Das Einhorn . Roman, erschien 1965 als Suhrkamp Hausbuch , 1966 im regulären Programm des Suhrkamp Verlags; die Erstausgabe von Uwe Johnson, Zwei Ansichten , wurde 1965, die von Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein . Roman, 1964 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Peter Weiss debutierte 1960 mit Der Schatten des Körpers des Kutschers im Suhrkamp Verlag [siehe Brief 1], 1963 folgte Das Gespräch der drei Gehenden. Ein Fragment , als Band 7 der edition suhrkamp . Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Weiss zwei Stücke auf deutsche Bühnen bringen können: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (Uraufführung 1964, Druck im selben Jahr in der edition suhrkamp
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