Der Buddha aus der Vorstadt
fragte mich, was die wichtigsten Ereignisse in meinem Leben gewesen seien. Ich wurde einige Male vor Stacheldraht fotografiert. (Fotografen lieben offenbar Stacheldraht.) Und meine Gedanken rasten, während ich versuchte, Eleanor nicht ständig anzustarren und die anderen Schauspieler nicht zu sehr zu hassen. Dann plötzlich war es soweit, die Nacht der Nächte hatte begonnen; ich stand allein im vollen Licht der Scheinwerfer, und vierhundert weiße Engländer sahen mich an. Heute weiß ich, daß der Text, der für mich altbekannt und langweilig klang und sich in meinen Ohren so schwungvoll anhörte wie ein läppisches »Hallo, wie geht’s?«, vom Publikum mit Leben und Bedeutung erfüllt wurde. Der Abend war ein Triumph, und - das weiß ich aus verläßlicher Quelle, nämlich von den Kritikern - ich hatte spritzig und überzeugend gespielt. Endlich.
Nach der Aufführung trank ich in der Garderobe einen Pint Guinness und schleppte mich ins Foyer. Und dort erwartete mich ein seltsamer und ungewöhnlicher Anblick, seltsam vor allem, weil niemand von mir zur Premiere eingeladen worden war.
Wäre ich eine Figur in einem Film gewesen, hätte ich mir jetzt die Augen gerieben, um zu zeigen, daß ich nicht glauben konnte, was ich sah. Denn da standen Mum und Dad, und sie redeten miteinander und lachten. So etwas erwartet man ja eigentlich nicht von seinen Eltern. Dort, unter all diesen elenden Salonlöwen, den Frackschleifen, Lackschuhen und den Frauen mit rückenfreien Kleidern stand Mum in einem blau-weißen Kleid, einem blauen Hut und braunen Sandalen. An ihrer Seite mein kleiner Bruder Allie. In dem Moment dachte ich nur, wie verloren und schüchtern Mum und Dad aussahen, wie grauhaarig und verletzlich, und in welch unnatürlichem Abstand sie zueinander standen. Da hält man sein Leben lang seine Eltern für erdrückende, beschützende Ungeheuer, die unendliche Macht über einen zu besitzen scheinen, und dann kommt der Tag, da dreht man sich überraschend um und sieht nur zwei schwache, nervöse Menschen, die versuchen, irgendwie miteinander auszukommen.
Eva kam mit einem Drink in der Hand zu mir und sagte: »Ein glücklicher Anblick, nicht wahr?« Wir sprachen eine Weile über das Stück. »Es handelt von diesem Land«, sagte sie. »Davon, wie gefühllos wir geworden sind, und daß wir allen Anstand verloren haben. Es räumt mit dem Mythos vom toleranten, ehrbaren England gründlich auf. Mir haben sich die Nackenhaare gesträubt. Und deshalb wußte ich, daß es ein gutes Stück war. Ich beurteile alle Kunst anhand dieser Wirkung auf meine Nackenhaare.«
»Ich bin froh, daß sich dir die Haare sträubten, Eva«, sagte ich. Sie war offenbar schlecht gelaunt, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Shadwell lauerte neben ihr und wartete darauf, daß ich mich ihm zuwenden würde. Und ständig wanderte Evas Blick unruhig umher - dabei vermied sie es, Mum und Dad anzusehen, obwohl es den Anschein hatte, als würde ihr Blick gerade dort noch am ehesten seinen Ruhepunkt finden. Eva schien die beiden mit den Augen verschlingen zu wollen. Als sie Shadwell den Rücken zukehrte, lächelte der mich an und sagte: »Ich bin hingerissen, zögere aber, weil ...« Ich sah noch einmal zu Mum und Dad. »Sie lieben sich immer noch, begreifst du das denn nicht?« sagte ich zu Eva. Vielleicht sagte ich es auch nicht; vielleicht dachte ich es nur. Manchmal kann man nicht genau sagen, ob man Worte tatsächlich gesprochen oder sie nur im eigenen Kopf gehört hat.
Ich sah Terry an der Bar stehen, neben sich eine Frau, die nicht wie die anderen parfümierten und herumstolzierenden Premierenbesucherinnen aussah. Terry stellte sie mir nicht vor. Er tat einfach so, als wäre sie nicht da, und gab mir auch nicht die Hand. Also sagte die Frau: »Ich bin Yvonne, eine Freundin von Matthew Pyke, und Polizistin in Nordlondon. Wachtmeister Monty und ich« - sie kicherte - »sprachen gerade über die Methoden der Polizei.« »Tatsächlich, Terry?« Ich hatte Terry noch nie so aufgeregt gesehen; er schüttelte den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren. Er wollte mir nicht in die Augen sehen. Das beunruhigte mich etwas. Ich strich ihm über den Kopf. »Was ist los, Monty?«
»Nenn mich nicht Monty, du Wichser. Ich heiße nicht Monty, ich heiße Terry, und ich bin sauer. Ich sag dir, was los ist. Ich wünschte mir, ich hätte da oben auf der Bühne stehen können. Es hätte meine Rolle sein können, ich hatte es verdient, kapiert? Aber du hast die
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