Der Buddha aus der Vorstadt
mit meiner Zeitungsrunde aufgehört, und sie redeten schon von verrückten Sachen, von denen ich vorher noch nie ein Wort gehört hatte: von Abtreibungen, Heroin, Sylvia Plath und Prostitution. Diese Mädchen kamen aus der Mittelschicht, aber sie hatten sich von ihren Familien losgesagt. Ständig faßten sie sich an, vögelten mit ihren Lehrern und bettelten sie um Geld für Drogen an. Sie waren ziemlich rücksichtslos gegen sich selbst und kamen regelmäßig wegen Drogensucht, Überdosen oder Abtreibungen ins Krankenhaus. Aber sie kümmerten sich umeinander und manchmal auch um mich. Sie meinten, ich sei süß und lieb und hübsch und all das, und das gefiel mir. Es gefiel mir, weil ich mich zum erstenmal in meinem Leben einsam und wie ein heimatloser Vagabund fühlte.
Ich hatte ziemlich viel Freizeit. Vorher hatte ich ein regelmäßiges Leben gehabt, in meinem Schlafzimmer mit dem Radio und im Wohnzimmer mit meinen Eltern, und jetzt zog ich zwischen den verschiedenen Häusern und Wohnungen hin und her, trug alles, was ich zum Leben brauchte, in einer großen Segeltuchtasche mit mir herum und wusch mir nie die Haare. Ich war keineswegs fürchterlich unglücklich, wenn ich mit dem Bus kreuz und quer durch Südlondon und die Suburbia führ, ohne zu wissen, wo ich war. Wenn Mum, Dad oder Ted erfahren wollten, bei wem ich mich gerade aufhielt, war ich immer woanders, ging manchmal sogar zu einer Vorlesung und machte mich danach auf den Weg zu Changez und Jamila.
Ich wollte keine Bildung. Es war nicht der richtige Zeitpunkt in meinem Leben, um mich zu konzentrieren. Dad glaubte immer noch, daß ich etwas werden wollte - Rechtsanwalt, hatte ich ihm vor kurzem erzählt, weil sogar er geschnallt hatte, daß der Traum vom Medizinstudium ausgeträumt war. Aber ich wußte, irgendwann würde ich ihm beibringen müssen, daß das Bildungssystem und ich miteinander fertig waren. Es würde ihm sein Emigrantenherz brechen. Bei den Leuten, mit denen ich mich abgab, manifestierte sich der Zeitgeist in allgemeinem Herumhängen und genereller Trägheit. Wir wollten kein Geld. Wofür auch? Wir konnten ohne auskommen, konnten von den Eltern, von Freunden oder vom Staat leben. Und wenn wir uns langweilen sollten, und wir langweilten uns meistens, weil wir uns selten aus eigenem Antrieb heraus zu etwas aufrafften, dann konnten wir uns wenigstens zu unseren eigenen Bedingungen langweilen, konnten in Abbruchhäusern stoned auf Matratzen liegen, statt winzige Rädchen im großen Getriebe zu sein. Ich wollte nicht arbeiten, wenn ich dabei nicht meinen Pelzmantel tragen konnte.
Auf jeden Fall gab es eine Menge zu beobachten - klar, das Leben interessierte mich. Ich war ein aufmerksamer Zeuge von Dads und Evas Liebe, doch Changez und Jamila fand ich noch faszinierender. Die beiden lebten, kaum zu glauben, aber wahr, zusammen in Südlondon.
Jamilas und Changez’ Wohnung, die Anwar angemietet hatte, war eine Zwei-Zimmer-Schachtel nicht weit von der Hunderennbahn in Catford. Die Möbel waren nur leicht lädiert, die Wände gelb, und in der Wohnung stand ein Gasofen. In dem einzigen Schlafzimmer lag eine Doppelmatratze, darüber eine indische Tagesdecke in schreiend grellen Farben. Es war Jamilas Zimmer. Am Fußende des Bettes stand ein kleiner Kartentisch, den Changez ihr zur Hochzeit geschenkt hatte; ich hatte ihn eigenhändig vom Trödelhandler zurückgeholt. Auf dem Tisch lag ein Tuch mit einem Liberty-Muster, und ich hatte Jamila eine weiße Vase gekauft, in der Narzissen oder Rosen standen. Ihre Kugelschreiber und Bleistifte bewahrte sie in einem Erdnußbutterglas auf. Bücher aus der Post-Miss-Cutmore-Phase lagen auf dem Tisch und stapelten sich um Jamila herum auf dem Boden: die »Klassiker«, wie sie sie nannte - Angela Davis, Baldwin, Malcolm X, Greer, Millett. Es war eigentlich nicht erlaubt, etwas an die Wände zu pinnen, aber Jamila hängte Gedichte von Christina Rossetti, Plath, Shelley und anderen Vegetariern auf, die sie aus geliehenen Büchern kopierte, und las sie, wenn sie sich die Beine vertrat und einige Schritte in ihrem winzigen Zimmer auf- und abging. Auf einer vorstehenden Holzplatte, die sie auf das Fensterbrett genagelt hatte, stand ihr Tonband. Vom Frühstück bis spätabends, wenn wir drei unsere Gute-Nacht-Biere zischten, dröhnten Aretha und die anderen »Mamas« durch das Zimmer. Jamila machte nie die Tür zu, also beobachteten Changez und ich, während wir tranken, das Profil unserer ach-so-konzentrierten Jamila,
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