Der Buddha aus der Vorstadt
ihm die Wahrheit zu sagen: daß er nämlich selber schuld war. Er tat mir leid.
Anwars Verzweiflung war nicht länger zu übersehen. Er war launisch und brauste ständig auf. In der Zeit, als Changez zu Hause blieb, um seinen verletzten Arm auszukurieren, kam Anwar dauernd zu mir, wenn ich in der Vorratskammer arbeitete. Er hatte bereits allen Respekt und jede Hoffnung verloren, die er einmal in Changez gesetzt hatte. »Was macht das verdammte, fette, nutzlose Schwein heute?« erkundigte er sich. »Geht’s ihm immer noch nicht besser?« »Er kuriert sich aus«, sagte ich. »Dem werd ich seine Scheißeier mit einem verfluchten Flammenwerfer kurieren!« sagte Onkel Anwar. »Vielleicht sollte ich die Nationale Front anrufen und denen Changez’ Namen durchgeben, he? Eine gute Idee, he!«
Inzwischen wurde Changez immer besser im Auf-dem-Feldbett-Liegen, Taschenbücher-Lesen und Mit-mir-durch-die-Stadt-Schlendern. Er war stets zu irgendwelchen Abenteuern aufgelegt, bei denen er nicht an einer Kasse oder auf einem dreibeinigen Schemel sitzen mußte. Und weil er ein bißchen doof oder zumindest schnell verletzbar war, außerdem freundlich und leicht zu beeinflussen und zudem einer der Menschen, die ich ungestraft verspotten und beherrschen konnte, wurden wir Freunde. Er folgte mir, wohin es mich trieb, während ich meiner Bildung aus dem Weg ging.
Anders als die meisten hielt er mich für ziemlich außergewöhnlich. Er war schockiert, wenn ich mein Hemd auf der Straße auszog, um mir ein paar Sonnenstrahlen auf den Pelz brennen zu lassen. »Du bist richtig mutig und unkonventionell, yaar«, sagte er häufig. »Und wie du dich anziehst, wie ein Zigeuner. Was sagt dein Vater dazu? Bestraft er dich sehr hart?«
»Mein Vater ist zu eifrig mit der Frau beschäftigt, mit der er abgehauen ist«, antwortete ich, »um besonders viel an mich zu denken.«
»O Himmel, dieses Land ist verrückt geworden, total sexbesessen«, sagte er. »Dein Vater sollte einige Jahre zurück in die Heimat gehen und dich mitnehmen. In ein abgelegenes Dorf zum Beispiel.«
Changez’ Abscheu vor alltäglichen Dingen brachte mich auf den Einfall, ihm Südlondon zu zeigen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis er sich daran gewöhnte, mit anderen Worten, bis er korrupt wurde. Ich machte mich ans Werk. Wir verschwendeten mehrere Tage beim Tanzen im Pink Pussy Club, gähnten über Fat Mattress beim Croydon Greyhound, glotzten uns sonntagmorgens Stripper in einer Kneipe an, schliefen bei Godard- und Antonioni-Filmen und genossen die Schlägereien auf dem Millwall-Fußballplatz. An diesem Tag zwang ich Changez, sich eine Pudelmütze über das Gesicht zu ziehen, damit die Jungs nicht sahen, daß er ein Paki war und womöglich noch auf die Idee kamen, daß ich auch einer sein könnte.
Changez wurde finanziell von Jamila unterstützt, die mit ihrer Arbeit im Laden alles bezahlte. Und mit dem Geld, das ich von Dad bekam, konnte ich ihm manchmal aushelfen. Außerdem sandte Changez’ Bruder ihm Geld, was ziemlich ungewöhnlich war, denn eigentlich hätte es, da Changez seinen Weg in den reichen Westen gemacht hatte, andersherum sein sollen, aber ich war überzeugt davon, daß die Feierlichkeiten aus Anlaß der Abreise von Changez in Indien immer noch andauerten.
Jamila war, wie sich bald herausstellte, in der glücklichen Lage, ihren Ehemann weder zu mögen noch zu verabscheuen. Der Gedanke, daß sie ihr Leben so weiterführte, als gäbe es ihn gar nicht, amüsierte sie. Aber spätabends spielten die beiden gerne Karten, und sie fragte ihn über Indien aus. Er erzählte ihr Geschichten von davongelaufenen Frauen und zu kleinen Mitgiften, von Ehebrüchen unter den Reichen Bombays (das dauerte viele Abende) und, besonders ergötzlich, von politischer Korruption. Er hatte aus den Taschenbüchern, die er las, offenbar einige Tricks gelernt, denn er zog diese Geschichten in die Länge wie ein Kind ein Stück Kaugummi. Darin war er gut; er verrührte die Geschichten mit immer mehr Kaugummi und Spucke und führte mit Sätzen wie »Erinnerst du dich an den bösen, bösen Mann, den man nackt in einer Badehütte erwischt hat?« alte Figuren neu ein, wie in einer von diesen verrückten, rührseligen Seifenopern. Schließlich war er sich sicher, daß Jamila irgendwann am Ende eines Tages, an dem sie an staubigem Hirnschmalz herumgenuckelt hatte, ihre rasend machenden Lippen öffnen und sagen würde: »Hey, Changez, Gatte oder was du auch bist, weißt du
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