Der Bund der Drachenlanze - 07 Michael Williams
auf die Befestigung der Hängematte. Vertumnus zwinkerte der Eule zu
und warf noch einen ironischen Blick auf die eingeschnappten Nymphen unter sich.
»Und jetzt«, gähnte er, »trollt euch in eine Eiche, damit
meine Freundin und ich schlafen können, denn wir wollen
die weisen Träume der Nachtschwärmer träumen.« Vertumnus zog eine Augenbraue hoch, drehte sich zu der Eule
um und winkte den Nymphen noch einmal – diesmal ungeduldiger.
Die verärgerten Dryaden glitten mitten in den Wald, wobei sie sich noch zweimal nach diesem unbeeinflußbaren,
grünen Mysterium ihrer Heimat umsahen.
»Du wirst nie einer von uns sein!« schrie die kleinere
spöttisch. »Auch wenn du grün wie ein Schößling bist, wie
ein Sommerlauch, wirst du nie wie wir sein, Herr der
Wildnis!« Dann verschwanden die beiden im Dämmerlicht
des Waldes.
Vertumnus lächelte und schloß die Augen.
»Diona«, flüsterte er, während er die Flöte an die Lippen
setzte, »du hast keine Ahnung, wie wenig mir das ausmacht.«
Heiter blickte der grüne Mann in das dunkle Dach des
Waldes hinein. Er setzte die Flöte an, nahm sie jedoch wieder runter, um zuerst ein paar beruhigende Worte an die
Eule zu richten. Seine Stimme klang wie Pfeifen und leises
Heulen und wie das Streichen des Windes durch die höchsten Äste, und dann machte der große Vogel es sich im flutenden Dickicht seiner Haare bequem. Vertumnus setzte
die Flöte wieder an, woraufhin die anderen aus den Schatten kamen: Nachtigall und Falke, Elch und Eichhorn und
Fledermaus und ein bernsteinäugiger Luchs.
Langsam begann der Herr der Wildnis mit der gemessenen, neunten Weise, die die Barden das Lied des Branchala
nennen. Die überraschte Eule schlug mit den Flügeln, als in
der Hängematte des Mannes neue Blätter sprossen. Obwohl Welt und Wetter um ihn her noch im zähen Griff des
Winters hingen, war plötzlich Hochsommer.
Vertumnus spielte, bis Blumen um ihn her aufkeimten
und blühten und ihre dünnen, hohlen Stengel durch seinen
Bart und sein Haar schoben. Rasch wechselte er zur zehnten Weise, dem heiteren, lispelnden Lied von Mater, und in
der Luft wehten süße Düfte. Auf den Zweigen über ihm
nickten die Singvögel, die von den lieblichen Düften verführt wurden, und begannen allmählich mitzusingen – wie
in dem Nebel auf der Solamnischen Ebene.
Die Augen des grünen Mannes blitzten vor Vergnügen.
Denn als nächstes kam die elfte Weise, das Solinarische,
das Lied vom Weißen Mond, der die Visionen schenkt. In
ganz Ansalon spitzten sich die Ohren, sah man in die Luft,
wenn leise und fast unmerklich die Töne aus dem Südlichen Finsterwald in die Welt hineinklangen.
Behende tanzten die grünen Finger über den Leib der
Flöte, den man kaum noch sah, als die Musik schneller
wurde. Vertumnus blickte zu dem grauen Fleck Morgenhimmel über sich auf, den man durch das schleierhafte
Netz der Zweige sehen konnte, und sah zu, wie er langsam
vom weißen Gesicht Solinaris ausgefüllt wurde.
Die Augen von Vertumnus blitzten auf. Der Tanz begann. Jetzt verdunkelten die Zweige nicht länger den
Himmel, denn im Bann der Musik und des Lichts schienen
sie zu einem Narbengewirr auf der Haut eines grandiosen
Mondes zu schrumpfen.
Die schimmernde Oberfläche des Kreises wurde grün,
während Vertumnus spielte, weil sie von einem fernen
Himmelssturm verdeckt wurde. Die Wolken wirbelten und
brodelten schweigend, bis aus ihrer Mitte Bilder erwuchsen, die die Oberfläche des Mondes bevölkerten.
Es war wie ein Wunder, wie eine Szene, die lebendiger
war als eine Erinnerung, aber weniger lebendig als ein Anblick. Über die Oberfläche von Solinari trotteten ein Dutzend Zwerge von einem unsichtbaren Fels zum nächsten.
Vertumnus verdrehte die Augen und spielte weiter.
Zwei von den Zwergen unterbrachen ihren geisterhaften
Weg, wodurch ihre Schatten auf die Lippe des Mondes fielen. Sie sahen sich an, schnüffelten und schüttelten verwirrt
den Kopf, als wollten sie etwas aus dem Ohr bekommen.
Vertumnus lächelte, ohne seine Lippen vom Mundstück
der Flöte zu nehmen. So war es immer: Die Musik erreichte
sie wie ein störender Gedanke, etwas Flüchtiges, an das sie
sich nicht mehr erinnern würden, sobald sie es nicht mehr
hörten. Aber das Lied von Solinari war ein Lied der Veränderung. Wer es hörte, wurde von der Musik verändert –
jedenfalls wenn er zuhörte. Mancher veränderte sich kaum
merklich, mancher von Grund auf, aber jeder, der Ohren
hatte zu hören, wurde
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