Der Bund der Drachenlanze - 07 Michael Williams
verwittert, aber noch intakt. Mit einiger Kraft gelang es
dem Jungen, die Tür aufzustoßen.
»Ist stark, dein Tänzer!« spottete Diona. Vertumnus legte
seinen langen, grünen Finger an ihre Lippen, und die Dryade wich zurück.
Jetzt ging der Junge hinein, und das Mittagslicht erhellte
kurz die Dunkelheit der Burg.
»Jetzt ist er in der großen Halle«, murmelte Vertumnus,
»mit den Wandbehängen, den goldenen Vögeln und dem
Marmorgeländer.«
»Erzähl uns davon«, flüsterte Evanthe. »Erzähl, Vertumnus.«
Der Herr der Wildnis schloß die Augen und hob die Flöte
an die Lippen. Etwas Heiteres, vielleicht mit ein bißchen
mehr Zauber, oder etwas durchdringend Helles…
»Vertumnus! Sieh!« zischte Diona. Er schlug die Augen
auf, als eine schattenhafte Gestalt wie ein unerwünschtes
Gespenst in einem Traum über den fernen Hof lief. Der
Mann, der Mantel und Kapuze trug, huschte von Schatten
zu Schatten und drückte sich an den Mauern entlang. Er
kam an die große Mahagonitür der Burg, legte die Hand
daran…
… und schlug sie plötzlich mit Gewalt zu, um sie dann
mit einem Dolch zu verschließen. So schnell, wie sie gekommen war, schlüpfte die Gestalt wieder davon, und aus
der Burg kam ein gedämpftes Geräusch, als der Junge verzweifelt und hilflos gegen die verschlossene Tür schlug.
Vertumnus legte sich wieder in die Hängematte. Seine
Flöte schwieg, als seine Finger ziellos darüber tanzten.
»Dieser Mann«, überlegte er, »der mit der Kapuze…«
Mit erfreutem Lächeln drehte er sich zu Evanthe um.
»Ich kenne ihn! Ich habe seinen Gang erkannt, seine Bewegungen.«
Lachend wuschelte er den Dryaden durch die Haare und
scheuchte sie spielerisch aus der Hängematte.
»Geht zur Fürstin, Evanthe! Diona! Sagt ihr, der Tanz ist
noch viel interessanter geworden!«
Und als die Nymphen durch den dichten immergrünen
Wald davonliefen, sprang Vertumnus aus der Hängematte
und schüttelte den Nebel aus seinen langen, grünen Locken. Er steckte die Flöte in den Gürtel und kletterte vom
Baum. Eine lange Reise lag vor ihm, aber sie war kurz im
Vergleich zu der Straße, die er vor sechs Jahren betreten
hatte.
»Bonifaz!« flüsterte er. »Bei allen Glücks- und Unglückssternen, Fürst Bonifaz Kronenhüter von Nebelhafen! Er
führt etwas im Schilde. Jetzt wird die Musik schneller.«
Bonifaz wandte sich von der Burgtür ab und schüttelte
den Kopf, um das komische Summen aus den Ohren zu
verbannen.
Jetzt war er zufrieden. Äußerst zufrieden. Denn jetzt war
der neugierige Junge im Turm eingesperrt.
Es hatte ihm alles an Reitkunst abverlangt, um vor Sturm
Feuerklinge in der Burg anzukommen. Er war in den dunklen Ställen abgestiegen und über den Hof gehuscht. Es war
ihm gerade so eben gelungen, alle Türen der Burg zu verschließen, damit der Junge, wenn er erst einmal drinnen
war, unmöglich wieder herauskam. Im ganzen Erdgeschoß
des tausend Jahre alten Turms waren die Türen nicht mehr
zu öffnen. Und allein die Höhe der oberen Fenster verhinderte ein Herauskommen durch sie.
Bonifaz seufzte, während er Luin zu einem Trog mit Regenwasser führte, aus dem die kleine Stute geräuschvoll
trank. Das Schlürfen der Stute überdeckte das Hämmern
und Rufen an der dicken Tür und das unnatürliche Mückengesumm in der Winterluft.
Es war keine besonders angenehme Aufgabe, Jungen in
Türme einzusperren. Höchstwahrscheinlich würde Sturm
verhungern, und selbst wenn er mit viel Glück entkommen
konnte, würde er lange genug von seiner Verabredung im
Wald abgehalten werden, damit seine Ehre – wie hatte es
der grüne Mann ausgedrückt? – »für immer dahin« war.
Deswegen war es aber nötig geworden, sagte sich Bonifaz, als er Luin zu dem dunklen Stall führte. Es war nötig
geworden, weil Sturm durch sein Fragen nach seinem Vater womöglich die Wahrheit über die Belagerung von
Schloß Feuerklinge herausbekommen hätte.Er war zu jung,
um jene Wahrheit zu verstehen, wie Angriff das Leben des
Ordens bedroht hatte.
Bonifaz lehnte seine Stirn an die warme Flanke des Pferdes, während er sich erinnerte. Er erinnerte sich, wie Angriff voller Visionen aus Neraka zurückgekehrt war, seine
Seele zutiefst in Gefahr. Sofort war allen die Veränderung
an dem Mann aufgefallen, wie seine Schwertkunst erblüht
war, wie er erfahrener, kühner und einfallsreicher geworden war. Damals hatten sie ihn Feuerklinge getauft.
Irgendwie hatte es sie etwas, hm, verunsichert. Schließlich war Angriff damals
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