Der Bund der Drachenlanze - 07 Michael Williams
winkten, Eisvogel, Krone und Rose waren in den Häusern gewiß nicht
willkommen.
Seufzend wendete der Junge seinen Blick gen Osten, wo
im schwachen Licht des Sonnenaufgangs und im schwindenden weißen Schein von Solinari die zwei Türme einer
großen Burg am Horizont aufragten. Es war zwar sicher
nicht Schloß Feuerklinge, aber immerhin ein Schloß, und in
dieser Gegend gewährte ein Schloß denen vom Eid und
vom Maßstab Zuflucht.
Gemächlich lenkte Sturm sein Pferd nach Osten zu den
Türmen, die wie Nebel vor ihm aus dem Boden zu ragen
schienen. Es dämmerte bereits, als die Wehrgänge sichtbar
wurden, und im schwachen Grau des ersten Sonnenlichts
konnte er das verblaßte Wappen des Schlosses ausmachen,
das auf einem gewaltigen Schild über dem Westtor prangte.
Das Wappen war verwittert, die Farbe leicht abgebröckelt, doch Sturm kannte seine eigene Familiengeschichte
gut genug, um die Linien zu erkennen: Hellrote Blume auf
weißer Wolke vor blauem Grund.
»Di Caela!« hauchte Sturm. »Die Heimat meiner Großmutter! Wir sind weit nach Süden abgekommen, meine
liebe Luin. Aber irgendwie sind wir wohl zu Hause.«
Das Pferd schnaubte wieder angesichts der Aussicht auf
einen Stall. Langsam verfiel es in Trab, dann in einen leichten Galopp, und mit verdoppelter Energie trug es Sturm
Feuerklinge zu den verwitterten Toren seiner Ahnen.
Kapitel 6
Im Finsterwald
Tief im Südlichen Finsterwald lag in einer Hängematte aus
Weinranken und Blättern der Herr der Wildnis. Er schloß
die Augen und setzte die Flöte ab. Das Licht um ihn her
war grün und bernsteinfarben, als wäre der Wald aus
dunklem, gewölbtem Glas.
Die Hängematte baumelte zwischen zwei alten Eichen
über den Grundmauern einer noch älteren Ruine. Moosbedeckte Steine sprenkelten die Lichtung wie abgenutzte
Zähne; es waren die Grundmauern eines kleinen Gebäudes, vielleicht einer kleinen Burg oder einem Kloster, das
ohne Zweifel bereits im Zeitalter der Macht verlassen und
dem Verfall anheim gegeben worden war.
Vertumnus’ Augen öffneten sich plötzlich. Über ihm in
den Zweigen der alten Eiche hockten zwei Dryaden, die
ihn erstaunt anstarrten.
»Du hättest ihn töten können!« zischte die kleinere der
beiden, deren schwarzes Haar zu einer langen Schlinge geknotet war. Ihre Stimme klang voll und boshaft, wie der
Wind, der in tote Blätter fährt.
Vertumnus antwortete nicht. Langsam faltete er die
Hände über seiner Brust, und einen Augenblick sah er aus
wie die Statue eines aufgebahrten Königs, still und königlich und undurchschaubar. Die Dryaden über ihm rutschten unruhig herum, und die Große krabbelte so geschickt
wie eine Spinne im Netz am Rand der Hängematte entlang,
bis sie neben dem grünen Mann ruhte und sich an ihn kuscheln konnte. Sie vergrub ihr Gesicht im grünen Dickicht
seines Barts.
»Ich weiß, du willst ihn nicht töten«, flüsterte sie verführerisch. Ihre Stimme klang wie Flötentöne, und ihre Berührung war leicht wie das Flattern eines Flügels. »Und uns ist
das egal. Aber hänsel ihn und verwirr ihn und schick ihn
ganz konfus zurück zu seinen eidtreuen Brüdern. Tu es! Tu
es jetzt !«
Vertumnus lachte, und der Wind pfiff durch sein Lachen.
»Ihr seid so blutrünstig wie Klesche, euer ganzer eichenbewohnender Haufen«, grollte er. »Und so dumm und stur
wie Elstern.«
Blätter raschelten, als er die Dryaden fortschickte.
»Fort mit euch! Es ist Morgen und damit Zeit für mich zu
schlafen.«
Er streckte sich, und die Dryade an seiner Seite krabbelte
von der Hängematte hinunter auf die trockenen Blätter des
Waldbodens. Sie zog einen Schmollmund und starrte den
grünen Kerl an, der in den Zweigen über ihr eindöste und
dessen Stimme voll fremdartigem Zauber war.
»Du bist keiner von uns«, klagte sie ihn an. »Noch nicht.
Und keiner mehr von ihnen, auch wenn du dich vielleicht
nach den Tagen von einst sehnst.«
Vertumnus lachte nur und drehte sich in der Hängematte
um. Er schüttelte den Kopf, so daß Eicheln durch die verknüpften Schlingpflanzen regneten, und einen Moment
lang schimmerte die Luft von tausend wirbelnden Flügelchen. Mit glitzernden, schwarzen Augen und warmem,
aber unlesbarem Blick sah er belustigt die Dryade an.
»Wer bist du, kleine Evanthe, daß du sagen willst, wonach ich mich sehne und was ich mir wünsche?«
Irgendwo aus den dicken, ausladenden Lärchenzweigen
flog eine große Eule mit einem Zweig mit knallblauen Beeren im Schnabel herunter. Sie setzte sich
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