Der Bund der Drachenlanze - 11 Tina Daniell
sich um ein einfaches, billiges Schmuckstück ihrer Mutter handelte, das
Raistlin als Andenken unter seinen Sachen verwahrt hatte.
Raistlin hatte eine eigentümliche Vorliebe für Kender, und
er war einer der wenigen Leute, die sie kannte, die einem
Kender eine Nachricht, und zudem noch eine wichtige, anvertrauen würden. In diesem Fall zumindest hatte sich sein
Vertrauen ausgezahlt.
Kit setzte sich auf den Rand ihres Bettes, machte den
Brief auf und begann zu lesen. Ihr mildes Lächeln wich
schnell einem verärgerten Ausdruck. Kit las die kurze Mitteilung noch einmal. Dann saß sie lange Zeit nachdenklich
da, kam jedoch zu keinem klaren Entschluß, was sie tun
sollte.Silbriges Mondlicht strömte in den Raum, als Kit endlich aufstand. Sie hatte beschlossen, Onkel Nelltis aufzusuchen und um Rat zu bitten.
Diesmal fa nd sie ihn auf Anhieb in seinen Räumen, wo er
an seinem Schreibtisch saß, auf dem sich Briefe und Berichte stapelten. Eine Öllampe warf einen goldenen Lichtschein. Obwohl es schon spät war, schien Nelltis hart an
einer jener Sachen zu arbeiten, mit denen er sich die Zeit
vertrieb. Doch er sah auf, als hätte er sie erwartet, und legte
die Feder beiseite. Der kinderlose Nelltis betrachtete Kit
gern wie seine Tochter und versäumte es nie, sie warm zu
begrüßen.
Kitiara erzählte ihm, daß sie über den Kender Espentau
einen Brief von Raistlin erhalten hatte. Nelltis hatte bereits
von Espentau gehört, der sich selbst eingeladen hatte, zum
Abendessen zu bleiben. Als guter Kaufmann hatte Espentau den Koch überredet, Briefe an seine Verwandten in verschiedenen Gegenden von Südergod zu schreiben. Trotz
der vorgerückten Stunde saß der Koch immer noch unten
in der Küche, wo er sorg fä ltig seine Briefe ab fa ßte. Dazu
brauchte er Zeit und eine ganze Menge Unterstützung seitens Espentau, denn der Koch war nie zur Schule gegangen
und konnte kaum lesen und schreiben.
»Ich vermute, unser Kendergast wird auch morgen zum
Frühstück noch hier herumspringen«, grinste Nelltis.
Er bat, Raistlins Brief sehen zu dürfen. Kit reichte ihn
hinüber und wartete, bis Nelltis stirnrunzelnd alles gelesen
hatte.
Nelltis hatte Raistlin nie kennengelernt, obwohl Raistlin
ihn ernsthaft interessierte. Jedesmal, wenn Kit zu Besuch
kam, fragte er nach ihren Halbbrüdern, Raistlin und Caramon. Auch die anderen Gefährten, die in dem Brief erwähnt wurden, kannte Nelltis nicht, obwohl er von ihnen –
besonders vom Halbelfen Tanis – immer wieder das eine
oder andere gehört hatte. Im Schein der Öllampe verriet
sein Gesichtsausdruck, daß er diesen Brief ebenso besorgniserregend fa nd wie seine Nichte.
»Kann das wahr sein?« fragte Nelltis schließlich, als er
den Brief sinken ließ. »Ist es möglich, daß dein Bruder sich
irrt?«
»Schon möglich«, sagte Kit finster, »aber er hat die ärgerliche Angewohnheit, immer recht zu behalten. Und was er
sagt, paßt zusammen. Meinst du nicht?«
Nelltis nickte.
»Was kann ich tun? Ich hatte mir gerade überlegt, daß ich
mal wieder meiner eigenen Arbeit nachgehen sollte. Jetzt
muß ich mich wohl erstmal hierum kümmern«, sagte Kit.
Sie tat, als wäre ihr das lästig, doch sie konnte nicht verbergen, wie besorgt sie war. Wenn man das halbe Leben für
die kleinen Brüder gesorgt hatte, konnte man das nicht mit
einem Schulterzucken abstreifen.
»Caramon würde für mich sein Leben geben, das weiß
ich. Ich muß etwas tun, aber wie soll ich zu ihnen kommen?
Wenn Raistlin recht hat, ist die Antwort Tausende von Meilen entfernt zu finden; das wäre eine langwierige Reise zu
Pferd oder eine nicht viel schnellere, aber zehnmal gefährlichere Reise zu Wasser. Selbst wenn ich sie einhole, bis ich
endlich dort bin…«
Wütend über ihre Hilflosigkeit lief sie vor Nelltis auf und
ab. Dieser trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Die
Lippen hatte er zu einer dünnen Linie aufeinandergepreßt.
Langsam breitete sich ein erfreuter Ausdruck auf seinem
Gesicht aus.
»Wenn es nur einen Weg gäbe«, wiederholte Kitiara, die
sich mit der Faust in die Handfläche schlug.
»Vielleicht gibt es einen«, sagte Nelltis so verschlagen,
daß Kit stehenblieb und ihn anstarrte. Er kniff die Augen
zusammen. Die Finger hatten aufgehört zu trommeln, und
seine Hände lagen aneinander.
Sie beugte sich über den Tisch vor. »Wie? Was meinst du,
Onkel?«
»Vielleicht gibt es einen Weg«, wiederholte Nelltis, »aber
das wird nicht einfach sein.«
»Geld? Ich habe etwas, aber ich kann auch mehr besorgen.
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