Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Meine Herren, die Jagd ist vorbei. Ich habe mit meinem Sohn zu reden.«
Sebastian zeigte sich von der plötzlichen Wendung der Situation derart überrascht, dass er bloß mit heiserer Stimme hervorbringen konnte: »Bei Sonnenuntergang im großen Saal?«
»Nein, jetzt gleich.« Ohne ein weiteres Wort oder eine Reaktion der jungen Männer abzuwarten, wandte sich Edgar von Falkenstein um und schritt mit wehendem Mantel davon. Seine große Gestalt hatte dabei eine Würde inne, die Sebastian beschämte. Er streifte seine Freunde zum Abschied mit einem verlegenen Blick, ehe er hinter seinem Vater hertrottete.
Der Weg führte durch die breite Straße, die von den Leuten gemeinhin als Fleischstraße bezeichnet wurde. Er mündete in den Platz, auf dem die Bauern Korn für die Kaufleute stapelten. Zweistöckige Steinhäuser säumten die Straße und ließen den Wohlstand der Handwerker erahnen, die unter ihren Dächern wohnten. Das muss man Erzbischof Albero lassen, dachte Sebastian, seit die elende Fehde ein Ende hat, ist es ihm hervorragend gelungen, der Stadt wieder Auftrieb zu geben. Sebastian war erst vor einem Monat aus den benachbarten Regionen Luxemburg und Lothringen zurückgekehrt und staunte noch immer über die Verwandlung Triers. Talentierte Steinmetze, Glaser und Tischler strömten heran, weil sie hier reichlich Arbeit fanden. Viele der Schäden, entstanden während der Fehde um die wohlhabende Benediktinerabtei, waren bereits behoben.
Natürlich tat die günstige Lage an der Mosel ihr übriges, Trier zu neuem Aufschwung zu verhelfen. Wo man hinsah, zeigte sich Aufbruchstimmung – als wäre Trier wie ein Biber nach der Winterruhe erwacht, um sich an die Bautätigkeit zu begeben. Vor allem der Hafen gewann immer mehr an Bedeutung und stand im Begriff, sich zu einem wichtigen Stapelplatz für feines Tuch, edlen Wein, Gewürze, Keramik, Mühlsteine und Waffen zu entwickeln. Und nach den Entbehrungen der vergangenen kargen Jahre kauften die Leute wie im Fieber.
Auf dem Kornmarkt eingetroffen, auf dem heute süße Trauben und Fässer voll von frischem Most auf Käufer warteten, lenkte Edgar seine Schritte vorbei an Münzhaus und Waage der Herberge entgegen, die vor lauter Menschen schier zu platzen drohte. Kein Wunder, ein Blick zum Himmel ließ befürchten, dass aus den Wolken bald die Sintflut hervorbrechen würde. Viele Reisende suchten einen trockenen Unterschlupf. Stickige Luft quoll ihnen aus dem überfüllten Raum entgegen. Es roch nach feuchtem Laub, das wohl dem einen oder anderen Gast an den Schuhen haftete.
Sebastian schob sich hinter seinem Vater bis ans Ende des Wirtsraums zu einem länglichen Tisch, an dem beide einen Platz fanden. Ihnen gegenüber hockte ein derb wirkender Kerl mit unnatürlich geröteter Nase. Der leicht nach vorn gesackte Oberkörper, die Verschwommenheit seiner Augen und die speichelbedeckten Lippen ließen ahnen, dass er schon manchen Krug geleert hatte. Den letzten Beweis dafür erbrachte der Gruß, den er mit vom Weingenuss lahmer Zunge erst nach mehreren Anläufen hervorbrachte. Sebastian konnte nicht begreifen, dass sein Vater, der das Trinken verabscheute wie Satan das Weihwasser, ihm ausgerechnet in Gegenwart eines solchen Gesellen eine Moralpredigt halten wollte. Wie kam es nur, dass er den Volltrunkenen als idealen Tischgenossen für sein Vorhaben ansah? Die einzige Erklärung, die er dafür fand: Sein Vater wollte von niemandem belauscht werden, zumindest von keinem, der im Vollbesitz seines wachen Geistes war. Sebastians Neugier wuchs. Ohne dass er eine Ahnung hatte, um was es sich handeln könnte, manifestierte sich in ihm die untrügliche Gewissheit, dass sein Vater höchst Wichtiges mitzuteilen hatte. »Vater, was ist geschehen? Worüber wollt Ihr mit mir reden?« Neugier brannte in ihm.
Sein Vater schien die Frage gar nicht zu hören. Stattdessen wanderte sein Blick prüfend durch die Herberge, offenbar ohne irgendwo ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Erleichtert atmete er auf. Daraufhin beugte er sich näher zu Sebastian und zischte: »In meinem Haus hättest du weiß Gott anderes erlernen können als die Kunst, Hirschen hinterherzujagen. Kaum ist der Oktober angebrochen, bist du wie ausgewechselt und treibst dich tagaus tagein im Wald herum! Doch will ich keine großen Reden über die unselige Jägerei halten, mit der du deine Zeit vergeudest.«
Noch bevor Sebastian, der fieberhaft nach Einwänden suchte, um seinen Vater milder zu stimmen, etwas entgegnen
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