Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
heilenden Säften und Pulvern verwahrte. Doch stattdessen schleppte Karolina ein eckiges Bündel, das sie mit beiden Händen fest umklammert gegen den Körper gedrückt hielt. Offensichtlich hatte es einiges an Gewicht aufzuweisen, denn ihr Atem ging stoßweise. Laetitias Neugier stieg. Einem ersten Impuls folgend, wollte sie Karolina etwas zurufen, um sich zu erkennen zu geben. Doch dann stiegen Zweifel in ihr auf: Wäre das wirklich klug? Zwangsläufig müsste sie dann eine Erklärung darüber ersinnen, was sie am finsteren Abend an der Marktsäule zu schaffen hatte. Was rechtfertigte ihren nächtlichen Ausflug? Nein, sich im Verborgenen zu halten, erschien ihr die klügere Wahl.
Immer genau darauf bedacht, dass die Säule des Marktkreuzes ihren Körper verdeckte, schob sie sich – Elle für Elle – ganz sachte um das Podest herum, während Karolina auf den Jerusalemturm zuhielt und vorbeilief. Als die Nonne endlich außer Hörweite war, blies Laetitia sich erleichtert eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Die Anspannung wich aus ihrem Körper. Doch wenig später stockte sie erneut. Hatte sie sich zu früh gefreut? Karolina, deren Silhouette sich im nächtlichen Schatten der Ludolf´schen Mauer zu verlieren schien, hielt mit einem Male inne und sah sich nach rechts und links um. Hatte Karolina sie nun doch bemerkt?, fragte sich Laetitia bange.
Nein, sie bog um die Ecke, sodass sie aus dem Gesichtsfeld verschwand. Im nächsten Moment ertönte ein seltsames Geräusch, das Laetitia nicht einordnen konnte. Dann herrschte wieder Stille, vollkommene Stille. Eigentümlich, wieso hallten Karolinas Schritte nicht nach? Als ob sich der Erdboden aufgetan und die Nonne verschluckt hätte. Höchst ungewöhnlich. Karolina war doch hoffentlich nichts zugestoßen? Hatte ihr womöglich Gesindel aufgelauert? Wenn sie doch wüsste, was dieses seltsame Geräusch zuvor ausgelöst hatte. Immer stärker von einer unguten Ahnung bedrängt, wagte sich Laetitia hinter dem Podest der Marktsäule hervor. Just in der Sekunde, als sie sich auf die Fährte der Nonne begeben wollte, wurden in der Finsternis erneut Schritte laut. Laetitia hielt inne. Diesmal zerstreuten sich umgehend alle Zweifel daran, dass die Geräusche von Sebastian stammten. Kaum dass er den Marktplatz erreicht hatte, lief sie auf ihn zu.
»Karolina, ich habe Karolina gesehen«, bestürmte sie ihn. »Dort, auf die Mauer ist sie zugegangen, gleich beim Jerusalemturm. Doch urplötzlich ist sie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt! Es muss ihr etwas zugestoßen sein. Gewiss ist sie irgendeinem Pack in die Hände gefallen!«
Die Worte beunruhigten Sebastian gleichermaßen wie sie selbst. Er zögerte keinen Moment. »Ihr rührt Euch nicht von der Stelle!«, zischte er. Dann eilte er auf die Mauer zu, der Stelle entgegen, an der Laetitia die Nonne noch vor wenigen Augenblicken gesehen hatte. Laetitia biss sich auf die Lippen. Trotz aller Warnungen Sebastians konnte sie es nicht ertragen, untätig zurückzubleiben. Wenn Karolina in die Fänge von Dieben geraten war, brauchte sie Beistand. Und etwas zu riskieren, um Karolina zu retten, fühlte sie sich mehr als bereit. Also heftete sie sich an Sebastians Fersen.
»Karolina«, erst vorsichtig, dann eindringlich klang Sebastians Ruf durch die Nacht. Laetitia, deren Puls raste, stimmte darin ein – doch vergebens, an der düsteren Mauer zeigte sich keine Menschenseele. Von Karolina fehlte jede Spur.
Kapitel 10
Laetitia spürte an ihrem rechten Arm Sebastians festen Griff, mit dem er sie von der Mauer fortzog. »Wir können jetzt nichts weiter für Karolina tun«, sagte er. »Lasst uns nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Wahrscheinlich hat sie bloß einen Kranken besucht. Ihr wisst doch, wie schnell ein ungeduldig wartender Angehöriger die Tür öffnet, wenn endlich Hilfe kommt.«
»Einen Kranken besucht? Gleich hinter der Mauerbiegung?«
»Sie war bestimmt schon drüben bei den Häusern. Es hatte für Euch in der Finsternis bloß den Anschein, als sei Karolina plötzlich verschwunden.«
Laetitia, deren Wangen vor Aufregung glühten, war nicht so leicht zu überzeugen. Sie schwor auf ihre Wahrnehmung: Die Nonne war keineswegs in ein an die Mauer grenzendes Haus gegangen, sondern wie durch Zauber von der Nacht aufgesogen worden. Aber gegen Sebastian, der mit Beharrlichkeit auf sie einredete, kam Laetitia nicht an.
»Vergesst nicht, dass Eure Nerven aufgrund der Erlebnisse in der Bibliothek überreizt
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