Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Lade des Pults zu öffnen. Als sie partout nicht nachgeben wollte, trat er an das Schreibpult, holte ein Lineal hervor und versuchte damit sein Glück. Er stemmte es mit sich zur Raserei steigernder Ungeduld in eine Seite der Lade. Im nächsten Augenblick vernahm Laetitia das laute Knacken des brechenden Schlosses. Sie hielt den Atem an. Es folgte das Rascheln von Blättern. Gerwin wühlte in der Lade herum bis eine Schriftrolle, mit einer schwarzen Kordel umschnürt, zum Vorschein kam. Er trat dichter zu der Kerze, die er zuvor auf die Ablage des Pultes gestellt hatte: Mit einem Ausdruck äußerster Spannung im Gesicht las er den Inhalt. Wenig später ließ er das Pergament sinken. Er machte den Eindruck, als habe er gefunden, was er gesucht hatte, denn er schob mit seiner Linken die Lade wieder zu und las danach weiter. Wenn er doch nur vor sich hinmurmeln würde, so wie sie selbst es beim Lesen oft tat! Zu gern wollte sie erfahren, welch interessanten Inhalt die Schrift in seinen Händen barg, dass sie unbedingt vor Anbruch des nächsten Tages gelesen werden musste. Als ob der Himmel ihren abstrusen Wunsch gehört hätte, begann Gerwin tatsächlich, vor sich hin zu murmeln.
»September 1136. Mit tapferen Rittern und unzähligen Getreuen machte sich Kaiser Lothar auf, um gegen Papst Anaklet … «
Mehr brauchte es nicht, damit Laetitia erblasste. Was nur brachte Gerwin dazu, sich mit einem Male mit brennendem Eifer für die Aufzeichnungen über den Apulienzug zu interessieren? Wusste er etwas über das Amulett mit der silbernen Lanze und seine Besitzer? Womöglich hatte er ihr gestriges Gespräch mit Sebastian belauscht! Es war ihr doch gleich verdächtig erschienen, dass er mit bleichem Gesicht um sie herumgeschlichen war. Doch die Frage, die noch schwerer wog: Was würde geschehen, wenn er seelenruhig mit dem Dokument verschwand? Was, wenn er es hier und jetzt in den Mantel steckte und sich davonmachte? Wenn das eintraf, würde sie nie erfahren, wer alles an der Apulienheerfahrt teilgenommen hatte und zum Bund der silbernen Lanze gehörte. Das Greifbarste, was versprach, etwas zur Entlastung Margunds beizutragen, wäre dahin. Fieberhaft überlegte Laetitia, was zu tun sei. Eines stand fest: Abwarten half nichts – sie musste handeln. Wenn sie allerdings einfach auf Gerwin zuginge, würde es zum Kampf kommen. Zwar war er ein schlaksiger Kerl, der gewiss nicht über Bärenkräfte verfügte, aber was wollte das schon heißen? Um Laetitia zu überwältigen, reichte es allemal.
Andererseits würde Zaudern noch weniger helfen. Nein, sie hatte keine Wahl. Laetitias Hände ballten sich zu Fäusten. Es galt, das Überraschungsmoment zu nutzen und Gerwin zu überrumpeln. So Gott wollte, fühlte er sich jetzt seinem Ziele so nah, dass er verzögert reagierte. Genau darin lag ihre Chance. Schon einen Wimpernschlag später zwängte sich Laetitia lautlos hinter dem Regal hervor und schlich voran. Sie schöpfte mit einem tiefen Zug Atem und sprang – ein lautes Geheul gleich dem eines Höllenhunds ausstoßend – auf Gerwin zu. Unter entsetztem Wimmern fuhr er zusammen, er glaubte wohl, von einem Dämon überfallen zu werden. Noch ehe er begriff, was vor sich ging, entriss ihm Laetitia das Schriftstück und versetzte ihm einen kräftigen Stoß, der ihn polternd gegen das Pult warf.
Im nächsten Augenblick rannte sie los, nur raus, raus, den geborgenen Schatz an die Brust gedrückt. Hastig stieß sie die Tür zum Vorraum auf, eilte hindurch zum Haupteingang, blieb stehen und spähte nach draußen: Niemand zu sehen. Flugs schlüpfte sie hinaus, als sie hinter sich dumpfe Geräusche vernahm. Offenbar hatte Gerwin sich gefangen und setzte entschlossen zur Verfolgung an. Panisch sah Laetitia um sich. Dort, ein Mauervorsprung! Ach wäre nur Sebastian hier, dachte sie, als sie sich hinter die vortretende Wand presste. Während winzige Schweißtropfen an ihren Schläfen herunterliefen, überlegte sie fieberhaft, wo sie das Schriftstück verbergen sollte. Verzweifelt zwängte sie das Pergament schließlich unter den Gürtel ihrer Tunika und schlang den Mantel fester um den Körper. Nicht wirklich ein einfallsreiches Versteck, aber welche Alternative bot sich an? Keinesfalls wollte sie das Schriftstück hier zurücklassen. Ihr klopfte das Herz zum Zerspringen. Vorsichtig lugte sie hinter dem Mauervorsprung hervor. Da hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme.
»Gerwin, wie gut, dass ich Euch antreffe. Schon seit zwei Tagen sage
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