Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Er hatte einen steinigen Weg beschritten, um sie zu erkämpfen. Und jetzt sollte er mir nichts, dir nichts zugeben, einer plumpen Fälschung aufgesessen zu sein? Dass er sich hatte narren lassen, führte für ihn als Gelehrten zu einem nicht unerheblichen Gesichtsverlust. Nein, über Wilhelm würde sie ihrem Ziel vermutlich nicht näherkommen, dachte sie, sie musste die Sache anders anpacken.
Bei Karolina wollte sie ansetzen, sie mit dem Tatvorwurf konfrontieren in einem Moment, in dem ihr – wenn sie wirklich schuldig war – jeglicher Versuch zu leugnen im Halse steckenblieb. Karolina hatte ein Geheimnis, das sie nachts aus dem Stift forttrieb – so viel war sicher. Nach dem Fest von Sebastians Vater war die Nonne nämlich nicht, wie behauptet, von Sorge getrieben zu einer kranken Novizin geeilt. Die gute Gesundheit, der sich Elisabeth und die beiden anderen Novizinnen erfreuten, strafte Karolina lügen. Was immer sie getan haben mochte: Ins Stift hatte ihr Weg sie jedenfalls nicht geführt.
Ganz zu schweigen von dem seltsamen Geschehen in jener Nacht, als Laetitia in der erzbischöflichen Bibliothek nach Dokumenten über den Apulienzug gesucht und vor Gerwin auf den Hauptmarkt geflohen war. Genau an dieser Stelle, an der sie jetzt saß, hatte sie beobachtet, wie Karolina plötzlich in der Finsternis verschwunden war – ohne die winzigste Spur zu hinterlassen. Laetitias Blick glitt an der Ludolf´schen Mauer entlang hin zu dem betreffenden Punkt. Sie wusste, dass sich gleich hinter der Biegung der Neidkopf befand, die scheußliche Fratze mit ihren gefletschten Zähnen und der herausgestreckten Zunge. Wie war ihr das Blut in den Adern gestockt, als die vier Augen sie zum ersten Mal widerwärtig anglotzten. Der Schöpfer des Neidkopfes konnte sich eines wahren Meisterwerks rühmen: Die Fratze erschreckte wirklich den bösesten Dämon sowie natürlich alle Trierer, die einen großen Bogen um die Skulptur zu machen pflegten.
Laetitia hatte den Gedanken noch nicht vollendet, als eine leise Vermutung in ihr aufglomm. Der Eingebung folgend erhob sie sich vom Podest des Marktkreuzes, ging auf die Mauer zu und bog um die Ecke. In genau dem gleichen Maße, in dem ihre Neugier wuchs, nahm die Furcht vor dem Scheusal ab. Sie näherte sich der steinernen Fratze auf wenige Fußlängen und zwang sich, jedes Detail der Grimasse genau zu betrachten. Und tatsächlich: Tief im steinernen Schlund nahm sie ein metallenes Glänzen wahr. Natürlich konnte allein der es erkennen, der das Ungeheuer aus der Nähe anzuschauen wagte. Laetitias Gesicht überflog ein Lächeln. Eine geniale Idee! Konnte ein Geheimnis einen besseren Wächter finden als dieses steinerne Ungetüm? Sie fasste mit der rechten Hand in den Rachen des Scheusals. Mit zusammengekniffenen Augen ertastete sie einen Hebel. Sie zog an dem kalten Metall, ruckte ihn nach rechts, daraufhin nach links und mit einem Mal gab der Neidkopf nach. Nein, nicht bloß der Neidkopf, die komplette Steinplatte bewegte sich. Eine Tür! Mitten in die von herbstlich gefärbtem Weinlaub überwucherte Mauer war eine geheime Tür eingelassen, deren Öffnungsmechanismus Laetitia soeben entdeckt hatte.
Sie zögerte kurz, blickte argwöhnisch über die Schultern. Niemand zu sehen. Jetzt oder nie, es galt, das Risiko zu wagen. Klopfenden Herzens schob sie sich durch die Öffnung. Mit einem schleifenden Geräusch schloss sich die Tür hinter ihr und Laetitia fand sich in einem schmalen Raum wieder, von dem aus Stiegen in einen Gang hinabführten. Sie griff nach einem Feuerstein, der neben einigen Talglichtern auf der obersten Treppenstufe lag, und entzündete eines davon. Neugierig sah sie sich um. Wenn ihr Orientierungssinn sie nicht im Stich ließ, musste sie sich hier in einer Art Anbau zum Jerusalemturm befinden. Hatte Burkhard im Sterben etwa hierauf verwiesen?
Sie hob das Talglicht an und wagte sich weiter vorwärts. Ebenso erstaunt wie aufgeregt tastete sie sich Schritt für Schritt im Halbdunkel voran. Der Korridor führte sie durch ein Kellergewölbe, dessen Wände von grünlichen Verkrustungen überzogen waren. Es roch modrig, ein bisschen wie nach Rüben, die bei der Ernte nass und zu schnell eingekellert worden waren. Laetitia hielt sich die Hand vor die Nase. Glücklicherweise ging es bald wieder einige Stufen hinauf und sie erreichte einen Raum, der über der Erde liegen musste. Allerdings war ›Raum‹ keine angemessene Bezeichnung für das, was sich vor ihr auftat. Unter einem
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