Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
den Spuk beendeten und der Logik zum Sieg über den Aberglauben verhalfen, würde sich auch Wilhelm öffnen. Zu dem befreienden Gefühl, das Laetitia durchflutete, gesellte sich sogleich eine Ahnung. Die Erinnerung an den Moment wurde lebendig, in dem Wilhelm aus dem vergilbten Dokument mit der Prophezeiung vorgelesen hatte. Damals hatte sich ein gewisser Widerstand in ihr geregt, den sie nicht an etwas Konkretem festmachen konnte. Jetzt hingegen erkannte sie in aller Schärfe, was sie seinerzeit irritiert hatte: Es war die Qualität des Papiers.
Die gelbliche Verfärbung ließ ein beträchtliches Alter des Dokuments vermuten. Es musste aus einer Zeit stammen, die weit vor dem ersten darin beschriebenen Ereignis lag. Zumindest hatte sie das geglaubt. Die Feinheit der Textur hingegen, an die sie sich jetzt deutlich erinnerte, strafte diese Annahme Lügen. Das Papier ähnelte demjenigen der kaufmännischen Aufzeichnungen in Burkhards Haus. Papier dieser herausragenden Qualität wurde jedoch erst seit neuester Zeit geschöpft und konnte keinesfalls hundert Jahre alt sein. Weshalb hatte sie das nicht sofort erkannt und Wilhelm damit den Nachweis erbracht, dass es sich bei der Prophezeiung um eine Fälschung handelte?
Mit dem nachgeahmten Dokument hatte der Mörder sich einer der größten Mächte auf Erden bedient: des geschriebenen Worts! Damit seine Botschaft rasch Glauben fand, fügte er heimtückisch Fakten in sein Lügengeflecht. Tatsächliche Geschehnisse, die sich vor langer Zeit ereignet hatten, vermengte er geschickt mit den jüngeren Ereignissen. Er musste zwei, drei Prisen Safran aus dem Morgenland über das Papier gestreut haben, um es gelb zu färben und alt erscheinen zu lassen. Daraufhin brauchte der Bösewicht es lediglich jemand Geeignetem in die Hände zu spielen – und in Wilhelm fand er sein Opfer.
»Ich frage mich bloß, wie der Mörder von dem Hypocaustum wissen konnte. Oder anders ausgedrückt: Wenn sich noch jemand an die seit Ewigkeiten stillgelegte Heizungsanlage erinnern würde, hätten die Diener doch sofort entsprechende Vermutungen geäußert«, sagte Laetitia.
»Ja, mir scheint auch, dass von dem Hypocaustum weder die Dienerschaft noch Albero selbst etwas wissen.«
»Vielleicht erinnert sich einer der Steinmetze oder Tischler, die beim Ausbau der Basilika zum erzbischöflichen Palast beteiligt waren?«
»Nein, von denen leben wohl nicht mehr viele. Ich vermute eher, dass jemand in der Bibliothek zufällig über den Konstruktionsplan stolperte, den ich jetzt in Händen halte. Das kann kürzlich oder schon vor langer Zeit gewesen sein.«
»Theoretisch käme doch auch Rupert dafür in Betracht. Ein Tempelherr kann doch jederzeit Zugang zur erzbischöflichen Bibliothek erhalten. Dann hätte er bloß noch einen Handlanger gebraucht, der die Drecksarbeit für ihn erledigte, während ich Rupert vor der bewachten Kammer nicht – oder nur kurz – aus den Augen gelassen habe.«
»Denkbar ist das, aber eine andere Möglichkeit erachte ich als wahrscheinlicher«, meinte Sebastian. Sein Ton klang mit einem Mal vollkommen verändert. Der Stolz über seine erfolgreiche Ermittlungsarbeit wich einer Beklommenheit, die Laetitia sich nicht erklären konnte.
»Was meint Ihr damit?«
»Nun, Margund erzählte Euch doch, dass Burkhard Verbitterung empfand und Rache für seine Söhne nehmen wollte.«
»Ja.«
»Die ganze Zeit haben wir uns aber nur auf die Rache für den Tod seiner beiden ältesten Söhne konzentriert und dabei völlig außer Acht gelassen, dass Burkhard drei Söhne hatte – drei, nicht bloß zwei.«
Jetzt erinnerte Laetitia sich, dass Margund im Kerker immer von den beiden Ältesten gesprochen hatte. Ihre erschütternden Schilderungen über die Maximiner Fehde hatten Laetitia damals völlig eingenommen. Sich nach Burkhards weiterem Sohn zu erkundigen, hatte sie infolgedessen versäumt. »Das stimmt, aber was geschah mit Burkhards jüngstem Sohn? Wie kam er ums Leben?«
»Der Jüngste wurde plötzlich krank. Ihn befiel ein seltsames Fieber, das von Tag zu Tag schlimmer und glühender wurde. Ein Fieber, von dem ihn niemand zu heilen vermochte. Er starb einer Nonne aus dem Stift unter den Händen weg.«
Mit einem nervösen Glänzen in den Augen fragte Laetitia beinahe tonlos: »Der Schwester Botanikerin?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Karolina.«
Kapitel 15
Laetitia wurde kreideweiß um die Nase, denn gleichzeitig mit dieser Nachricht wurde ihr etwas bewusst, was sie
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