Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
dessen Kälte ihn erschauern ließ. Er legte sich auf die Seite, die Beine halb angezogen und die Arme gerade ausgestreckt. Dann schloss er die Augen und verlangsamte seinen
Atem, während er sich mit dem Teil seines Bewusstseins verband, den er fürchtete und liebte, verachtete und pries.
Im Nu veränderten sich seine Gedanken. Sein Bewusstsein war mit Träumen vom Rudel erfüllt, von der Freude an der Jagd und der Schönheit des Tötens. Er witterte Blut und roch die unzähligen Düfte des Waldes. Er träumte von schneller Bewegung, und die Muskeln seiner Glieder schwollen an. Knochen verlagerten sich und Pfoten bildeten sich. Er träumte von der Macht seines Gesichts, und die Kieferknochen wurden länger, die Reißzähne wuchsen, die Zunge verflachte sich, die Nase verwandelte sich. Er träumte, die Geräusche der ganzen Welt zu hören, und die Ohren wuchsen aus dem Schädeldach. Er träumte von Kraft, und sein Brustkorb wurde rund, die Lungen wurden weit, das Herz schlug schneller.
Er spürte den Himmel über sich, erinnerte sich an die Beute unter den Pfoten und hörte seine Brüder, die ihn riefen. Er wusste, dass er wieder daheim war, doch tief in seinem Innern hallte der Ruf: »Vergiss es nicht.«
Er kam rasch auf die Beine, ein tiefes Knurren entstand in seiner Brust, die Kraft erfüllte seine neu geformten Muskeln. Er sah die Freund-Frau zurückweichen und den Mann-Rudelbruder eine Hand heben, zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er richtete die Aufmerksamkeit auf den Deckel der Gruft.
Erienne hatte sich immer eingebildet, sie könne alles mit objektivem Blick betrachten. Die Schrecken, die sie während ihrer Ausbildung gesehen hatte, hatten sie in der Tat gegenüber den meisten Dingen unempfindlich gemacht. Thrauns Verwandlung aber war etwas, für das sie trotz all ihrer Erfahrung keine Vergleichsmaßstäbe besaß. Er hatte Recht, die Verwandlung ging rasch vor sich, doch sie würde nie vergessen, was sie sah. Jetzt stand er vor ihr, mit
einer Schulterhöhe von etwa vier Fuß, die mächtigen Kiefer leicht geöffnet, und starrte sie mit gelblich schimmernden Augen an. Sein Fell war hellbraun mit grauen Flecken, am Hals befand sich ein rein weißer Streifen. Will winkte, und daraufhin sprang Thraun auf Arteches Gruft, lief durch den Schutzzauber und nahm den Ring mit der Zunge auf. Dann sprang er wieder herunter. Er ließ den Ring vor seine Füßen fallen und sah Will fragend an.
Erienne war erleichtert. Hätte Thraun den Schutzzauber ausgelöst, dann wären sie auf der Stelle vernichtet worden. Die Gelassenheit, mit der Will den Blick des Wolfs erwiderte, hatte augenblicklich ihre Nerven beruhigt. Sie streckte die Hand aus, und Thraun schnüffelte daran.
»Du solltest jetzt schnell den Schutz da draußen noch einmal verschieben«, sagte Will. »Ich habe meinen Schlüssel im Schloss gelassen, du musst ihn nur halb herumdrehen.« Er pfiff, um Thrauns Aufmerksamkeit zu erregen. »Wenn wir aufbrechen, müssen wir rennen. Du kannst dich später im Wald wieder verwandeln. Es wird gefährlich werden. Folge mir.« Er bückte sich halb und streckte eine Hand nach dem Ring aus. Thraun knurrte und stellte eine Pfote darauf. »Na gut, dann behalte du ihn.«
»Wie viel von deinen Worten hat er verstanden?«, fragte Erienne. Sie hatte bereits die Tür geöffnet und sah sich über die Schulter zu Will um, der mit den Achseln zuckte.
»Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass er das meiste versteht, und es gibt gewiss einige einzelne Worte, die er erkennen kann. Leider kann er sich nicht merken, wie das Verstehen vor sich geht, er weiß nur, dass es klappt.«
Thraun nahm die Pfote vom Ring und hob ihn wieder mit der Zunge auf. Es wurde gefährlich, hatte sein Rudelbruder gesagt. Er musste rennen. Sie wollten in den Wald. Die Rufe der Brüder hallten wider in seinen Ohren.
Glücklicherweise war es leicht, den Wachzauber noch einmal zu verschieben. Die Konstruktion der Mana-Form brachte es mit sich, dass die Blase nicht von innen zerstört werden konnte. Doch da der Zauber im Innern, die Falle, immer noch ausgelöst werden konnte, musste Erienne die magische Vorrichtung noch einmal zur Seite schieben. Es war binnen Sekunden erledigt.
»Wird er uns folgen?«
»Ja«, sagte Will. »Aber vergiss nicht, dass er völlig unabhängig ist. Er wird auf niemanden hören, nicht einmal auf mich, und das macht ihn gefährlich.«
»Gefährlich für uns?«
»Nein, denn er weiß, dass wir Freunde sind. Aber im Grunde ist
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