Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
entdeckt zu werden. Sie legte die Hülle über den Wachzauber, schmiegte sie straff darum und spürte einen geistigen Ruck, als der Wachzauber ihre Blase akzeptierte und sich mit ihr verband. Sie suchte nach Schwachpunkten, doch es gab keine. Dann lockerte sie die starre Außenhülle ein wenig und drückte mit ihrem Bewusstsein gegen die linke Seite.
Der Schutzzauber glitt langsam zurück und gab zuerst den Türgriff frei, dann die Türfläche, bis die Hälfte der Tür außerhalb seines Einflussbereichs lag. Zufrieden mit ihrem Werk zog sie sich mit ihrer Hülle zurück und rief Will und Thraun zu sich.
»Will, dort ist das Schloss, das geknackt werden muss«, sagte sie, als die beiden auftauchten. »Versucht auf keinen Fall, hinter mich zu treten. Bewegt euch ausschließlich vor mir. Habt ihr das verstanden?«
»Ja«, sagten die beiden Männer.
Das Schloss war so leicht zu knacken, dass Will sich beinahe beleidigt fühlte. Auf Eriennes Nicken hin drehte er den Griff herum und stieß die Tür auf.
»Geh nach drinnen und halte dich links. Lehne dich an die Wand, dort bist du sicher. Du auch, Thraun. Ich muss den Schutzzauber wieder vorlegen.«
Die beiden Männer gingen nach drinnen. Im schwachen Licht von Eriennes Lichtkugel konnten sie einen dunklen Umriss in der Mitte des Raumes erkennen, langgestreckt und niedrig. Das Licht wurde heller, als Erienne nach drinnen
kam und die Tür hinter sich schloss. Die Kugel beleuchtete eine schlichte Grabkammer mit einer etwa acht Fuß hohen Decke.
Der dunkle Umriss entpuppte sich als ein einzelner steinerner Sarkophag. Er war flach, breit und, abgesehen von einer Inschrift an einem Ende, frei von Verzierungen. Oben darauf lagen in einem Glaskasten ein Schwert, ein dunkelblaues und orangefarbenes Gewand und ein kostbarer Ring. Die Atmosphäre war in der Grabkammer etwas leichter zu ertragen, und Will atmete tief und dankbar durch. Wieder sah er sich um. Die Wände waren fugenlos glatt, sie waren durch die einzige Tür hereingekommen.
»Ist es das?« Will war nicht sonderlich beeindruckt.
»Was hast du erwartet?«, gab Erienne zurück. Sie trat vor den Sarg und betrachtete stirnrunzelnd den Ring.
»Etwas mehr Pracht vielleicht, um ehrlich zu sein.«
»Ein Meister der Überlieferung mag im Leben prunkvoll sein, doch im Tod braucht er nichts als Mana, um sich zu kleiden. Ach, du meine Güte.« Sie umrundete den Glaskasten, die Hände tief in die Taschen ihrer Gewänder geschoben.
»Was ist los?«, fragte Will.
»Der Schutzzauber, der den Ring umgibt. Ich … warte.« Sie amtete tief durch und betrachtete noch einmal die außergewöhnliche Mana-Gestalt. Sie war klein, nicht größer als ein menschlicher Schädel, doch sie zeichnete sich durch zwei Eigenschaften aus. Sie hatte drei rotierende farbige Bänder – orange, blau und dunkelgrün –, und die Gestalt hatte eine Spitze, so dass sie in etwa die Form eines übergroßen Streitkolbens bekam.
Erienne hatte noch nie von so etwas gehört oder gelesen, und als sie die mit Mana abgeschirmten Hände hob, veränderten und verdunkelten sich die Farben des Schutzes
und drohten, ihren Schild zu durchbrechen. Sie zog sich mit kribbelnden Fingern zurück.
»Will, du solltest die Tür lieber wieder absperren«, sagte sie. »Es kann eine Weile dauern.«
»Wo liegt das Problem?«, fragte Thraun.
Erienne lächelte nachsichtig. »Ich glaube, das würdest du nicht verstehen.«
»Versuch’s doch.«
»Also gut. Die Form des Schutzzaubers und seine Bauweise ist nicht rein dordovanischen Ursprungs. Er enthält Überlieferungen von mindestens einem anderen Kolleg, die ich nicht kenne. Hilft dir das?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Thraun. »Hast du eine Ahnung, wie der Schutz ausgelöst wird?«
»Vermutlich dadurch, dass jemand die Struktur stört, nehme ich an«, sagte Erienne ein wenig schnippisch.
»Ich müsste das genauer wissen. Was kann die Struktur stören?«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Erkläre mir noch einmal, wie ein Schutzzauber funktioniert«, sagte Thraun.
»Warum?«
»Sei bitte so nett«, beharrte er.
»Ein Schutzzauber ist eine Gestalt aus statischem Mana, die aufgebaut wird, um ein Objekt zu beschützen«, zitierte Erienne. »Die Gestalt wird so konstruiert, dass derjenige, der den Spruch wirkt, jedes Objekt oder Wesen, sei es lebend oder unbelebt, einschließen oder ausschließen kann. Und was jetzt?« Ihre Stimme klang ein wenig gereizt.
»Glaubst du, dass du dich der Mana-Gestalt anpassen
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