Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Auge. Er deutete auf eine Tür hinter der Theke, schob sich an ihr vorbei und kniete sich zwischen den Trümmern seines Gasthofs neben einen Mann, dem von einem herabgefallenen Balken beide Beine zerquetscht worden waren. Fassungslos sah sie zu, wie Tomas mit dem Eingeklemmten einige Worte wechselte, nickte und ihm über der Arterie einen tiefen Schnitt ins Bein beibrachte. Er hielt ihn fest, während sein Lebenssaft auf den Boden rann, bis er starb.
Schreie drangen von draußen herein. Menschen rannten in westlicher Richtung vorbei, sahen sich über die Schulter um und rannten noch schneller. Ein gewaltiges Tosen erfüllte die Luft, ein betäubendes, schmerzhaft lautes Geräusch. Diera drückte Jonas’ Kopf an sich und bedeckte sein zweites Ohr mit der freien Hand.
»Tomas!«, schrie sie. »Tomas!«
Das Rauschen wurde noch lauter. Ein Wagen flog an der Vordertür des Gasthofs vorbei und knallte nicht weit entfernt gegen eine Wand. Balken und Eisenteile flogen herum. Die Menschen, die im Gasthof ausharrten, duckten sich und klammerten sich an alles, was ihnen etwas
Halt geben konnte. Tomas rief den Leuten etwas zu, doch sie konnten ihn nicht hören.
Hand über Hand kroch er wieder zur Theke, packte Diera und zerrte sie zur Kellertür. Er zog die Tür mühsam auf, und zusammen stolperten sie die von Laternen beleuchtete Treppe hinunter. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem Knall wieder zu.
Hier unten war es ruhiger, und nun hörte sie ihr eigenes Keuchen, das Wimmern ihres kleinen Kindes und Tomas’ Flüche. Der Keller war voller Menschen. Sie sah Maris und Rhob, die einander umarmten, und viele andere, die sie nur flüchtig kannte. Ihnen allen stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, sie zitterten vor Anstrengung am ganzen Körper, und wer noch stehen konnte, kümmerte sich um diejenigen, die dazu nicht mehr genug Kraft hatten.
Über ihnen war ein schreckliches Knirschen zu hören, dann ein gewaltiger Knall, der alle Balken beben ließ. Staubwolken schossen über ihren Köpfen aus den Fugen.
»Der Gasthof«, keuchte Tomas. »Weg, er ist weg.«
Diera sah die Qual in seinem schmalen, blutverschmierten Gesicht.
»Was können wir tun?«, fragte sie.
Er drehte sich zu ihr um, legte ihr eine Hand auf die Wange und streichelte sie sachte.
»Beten«, sagte er. »Beten, dass die Decke des Kellers hält. Beten, dass die Flut nicht bis hierher kommt. Beten, dass wir morgen noch die Sonne sehen, und dass dein Mann einen Weg findet, all das zu beenden, bevor wir alle sterben.«
Diera sah ihn an. Sie wusste, dass es im Grunde nur mit Magie zu tun hatte. Schon seit Tagen redete man in der Stadt darüber. Sie wollte eigentlich fragen, was denn
ein Mann gegen dies alles tun könne. Andererseits war ihr auch klar, dass jeder Mensch einen Glauben brauchte, an dem er festhalten konnte.
Tomas hatte sich entschlossen, an Sol zu glauben.
Diera wiegte ihr weinendes Kind und hielt es vor ihrer Brust fest. Es war tröstlich, diesen Glauben zu teilen. Schließlich hatte er Balaia bisher noch nie im Stich gelassen.
Die Calaianische Sonne hatte Mühe, Fahrt aufzunehmen. Der Wind, mit dessen Hilfe die Meerulme ausgelaufen war, hatte sich gedreht und wehte jetzt geradewegs den Arl herauf zum See.
Es war Nacht und völlig dunkel, die zerstörte Stadt lag hinter ihnen. Der Rabe hatte von der Mannschaft trockene Kleider bekommen und konnte eine Bestandsaufnahme machen, während Jevin, ihr spröder Kapitän, sich mit widrigen Winden herumschlug und so viel Segel setzte, wie er es wagte. Er hatte bereits erklärt, dass sie möglicherweise den ganzen Fluss hinunter kreuzen mussten. Wenn die Meerulme Glück gehabt hatte, dann konnten sie frühestens einen halben Tag nach ihr die offene See erreichen.
Darrick besorgte Essen und Trinken aus der Kombüse, Hirad, Ilkar und Denser standen zwischen den schmalen Doppelkojen, auf denen der Unbekannte und Thraun lagen. Hirad fühlte sich hilflos. Er ging im Geiste immer wieder durch, was geschehen war, und überlegte, ob er irgendwie hätte helfen können. Er fand nichts.
So lag der Fels des Raben bewusstlos unter einer Warmen Heilung, lebendig zwar, aber schwer verletzt. Hirad wischte sich mit dem rechten Daumen und dem Zeigefinger die Augenwinkel aus. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Es war nicht deine Schuld«, sagte Ilkar. »Ich habe den Kraftkegel gesprochen.«
Hirad sah den Elf an. »Das meine ich doch nicht. Niemandem kann man irgendetwas vorwerfen. Ich dachte nur,
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