Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Einsicht gelangt, der sie sich nicht länger verschließen
konnte. Lyanna würde sich unwiderruflich verändern, und es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass die Veränderungen mit einem tödlichen Risiko einhergingen. Wenn die Ausbildung aus irgendeinem Grund scheiterte, dann würde Lyanna sterben.
»Komm her, meine Liebe.« Erienne streckte die Arme aus. Das Verlangen, ihr Kind zu umarmen, war so stark, dass es wehtat. Lyanna trabte zu ihr, und Erienne drückte sie an sich und wollte sie nie wieder loslassen. Doch bald schon sträubte Lyanna sich, und Erienne gab sie frei.
»Versprichst du mir, dass du brav bist und auf die Lehrerinnen hörst?«, fragte sie. Sie streichelte Lyannas Haare.
Lyanna nickte. »Ja, Mami.«
»Und du wirst alles versuchen, was sie dir vorschlagen?«
Wieder ein Nicken.
»Weißt du, das ist sehr wichtig. Und ich bin auch immer da, wenn du mich brauchst.« Sie sah Lyanna in die Augen. Die dordovanische Lehre hatte die Kleine in ihrem eigenen Tempo aufgenommen, auf ähnlich selbstverständliche Weise, wie sie gelernt hatte, mit Messer, Gabel und Löffel zu essen. Vielleicht ging es hier genauso leicht, aber Erienne bezweifelte es. »Bei den Göttern, ich frage mich, ob du überhaupt weißt, was hier geschieht«, schnaufte sie.
»Aber natürlich weiß ich das, Mami«, sagte Lyanna. Erienne lachte.
»Oh, Liebes. Es tut mir Leid. Natürlich weißt du es. Dann erkläre es mir doch bitte.«
»Die Lehrerinnen helfen mir, die bösen Dinge zu verscheuchen. Und sie öffnen die anderen magischen Türen,
und dann zeigen sie mir, wie ich den Wind in meinem Kopf anhalten kann.«
Erienne starrte sie an, ihr Herz setzte einen Moment aus. Lyanna war viel zu jung, um eine so klare Vorstellung zu haben. Erienne hatte damit gerechnet, dass es ein langwieriger Lernprozess würde. Anscheinend hatte sie sich geirrt.
»Woher weißt du das alles?«
»Sie haben es mir gesagt«, erklärte Lyanna. »Sie haben es mir in der letzten Nacht gesagt.«
»Wann denn?«
»Als ich geschlafen habe.«
»Oh, sie haben im Schlaf mit dir gesprochen?« Erienne hatte auf einmal einen schalen Geschmack im Mund, und ihr Puls beschleunigte sich.
Die Tür des Obstgartens wurde geöffnet, und Cleress kam nach draußen. Sie strahlte, das Schlurfen des vergangenen Abends war verschwunden, und sie ging mit beinahe jugendlichem Schwung.
»Ist sie bereit?«, fragte sie fröhlich.
»Nun, anscheinend weißt du mehr darüber als ich«, sagte Erienne scharf.
»Was ist denn los?«
»Wenn ihr noch einmal im Schlaf in das Bewusstsein meiner Tochter eindringen wollt, dann werdet ihr so höflich sein, mir vorher Bescheid zu sagen. Ist das klar?«
Cleress’ Lächeln war jetzt etwas verkrampft. »Wir müssen sie vorbereiten, und es gibt viele Dinge, die sie nur übers Unterbewusstsein aufnehmen kann, aber nicht, wenn sie wach ist.«
»Cleress, du hast nicht zugehört.« Erienne stand auf und hielt Lyanna dicht neben sich. »Ich habe nicht gesagt, dass ihr es nicht tun dürft. Bei den Göttern, ich habe sie
hierher gebracht, weil ich glaube, dass ihr genau wisst, was ihr tut. Ich will nur, dass ihr mich vorher unterrichtet. Niemand versteht Lyanna, wie ich sie verstehe. Manchmal muss man sie auch in Ruhe lassen.«
»Na gut.« Cleress sah sie finster an.
»Sie ist meine Tochter, Cleress. Das darfst du nie vergessen.«
»Ich verstehe.« Endlich nickte sie. »Wir waren sehr lange allein.«
»Dann lasst uns endlich beginnen.«
6
Denser hatte keine Probleme, Zugang zur Bibliothek des Kollegs von Dordover zu bekommen, obwohl es schon dunkel war und genau genommen bis auf die Magier und Mitarbeiter des Kollegs niemand mehr das Gelände betreten durfte. Als der Rabe am Vortag in der Stadt angekommen war, hatte Vuldaroq sich sehr bemüht, ihnen bei ihren Nachforschungen zu helfen und alle Informationen zu beschaffen, die sie brauchten. Er stimmte sogar Densers und Ilkars Wunsch zu, die Tinjata-Prophezeiung zu lesen, hatte aber die offizielle Einladung nur an Denser gerichtet.
Natürlich war Denser ausgesprochen misstrauisch. Da jedoch der Unbekannte und Ilkar in den Straßen der Stadt nach Kontakten und nach allem suchten, was die Dordovaner möglicherweise übersehen hatten, konnte er nichts weiter tun als lesen und hoffen, dass früher oder später schon herauskäme, warum Vuldaroq sich so entgegenkommend zeigte.
Das Original der Tinjata-Prophezeiung wurde in einem luftdichten Glasbehälter in einem anderen Teil des
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