Der Canyon
Verteilung der Lorbeeren, darum, dass er bekam, was ihm zustand.
Corvus packte vorsichtig sämtliches Material in seine Aktentasche. Dann ging er zum Computer, loggte sich als Administrator ein und überprüfte alle ihre Dateien. Nichts. Sie hatte getan, was er verlangt hatte, und alles gelöscht. Er wandte sich ab und wollte gerade gehen, als ihm plötzlich etwas einfiel. Er musste auch noch die Logbücher der Geräte überprüfen. Jeder, der die teure Ausstattung des Labors benutzte, musste sich ein- und austragen und die Gerätezeit einem Projekt zuordnen, und er fragte sich, wie Melodie diese Verpflichtung erfüllt hatte. Er kehrte in den REM-Raum zurück, schlug das Logbuch des Rasterelektronenmikroskops auf und überflog die Einträge. Zu seiner Erleichterung sah er, dass Melodie alles genau nach seiner Anweisung gemacht hatte – sie hatte ihren Namen und die Gerätezeiten eingetragen, aber unter »Zweck« falsche Angaben eingesetzt, alle möglichen Arbeiten für andere Kuratoren.
Wunderbar.
Mit seiner schwungvollen, stark geneigten Handschrift setzte er Einträge unter seinem eigenen Namen dazwischen. Die Probenspalte beschriftete er mit High Mesas/Chama Wilderness, New M., T-Rex. Er zögerte und fügte dann unter »Bemerkungen« hinzu: Dritte Untersuchung e. bemerkenswerten Wirbelfragments, T-Rex. Außergewöhnlich! Historische Entdeckung. Er unterschrieb und notierte Datum und Uhrzeit. Er blätterte zurück, fand auf den vorherigen Seiten ein paar leere Zeilen an den Seitenenden und fügte ähnliche Einträge mit passenden Daten und Uhrzeiten hinzu. Ebenso verfuhr er mit den Büchern der anderen High-Tech-Geräte.
Als er den Raum gerade verlassen wollte, überkam ihn der Drang, selbst einen Blick auf die Probe zu werfen. Er öffnete seine Aktentasche, holte die Schachtel mit den Präparaten hervor und nahm eines der dünnen Scheibchen heraus. Langsam drehte er es hin und her und ließ das Licht auf der Oberfläche spielen, die mit vierundzwanzigkarätigem Gold bedampft war. Er schaltete das Mikroskop an, wartete, bis es warmgelaufen war, und schob dann eines der Plättchen in die Vakuumkammer im Fuß des Mikroskops. Ein paar Minuten später starrte er auf die Elektronenmikroskop-Darstellung der Spongiosa eines Dinosauriers – Zellen und Nuklei waren deutlich zu erkennen. Es verschlug ihm den Atem. Wieder einmal konnte er nicht umhin, Melodies technische Fähigkeiten zu bewundern. Die Bilder waren scharf, perfekt. Corvus stellte die Vergrößerung auf 2000-fach hoch, und eine einzelne Zelle füllte den Bildschirm aus. Er konnte darin eines dieser schwarzen Partikel sehen, die sie als Venus-Partikel bezeichnet hatte. Was zum Teufel war das? Ein ziemlich albern aussehendes Ding eigentlich, eine Kugel, von der ein merkwürdiger, röhrenförmiger Arm mit einer Querstrebe am Ende abstand. Es überraschte ihn, wie vollkommen frisch dieses Partikel aussah, ohne Risse, Bruchstellen oder sonstige Beschädigungen, die man eigentlich erwarten müsste. Es hatte die vergangenen fünfundsechzig Millionen Jahre gut überstanden.
Corvus schüttelte den Kopf. Er war Paläontologe, kein Mikrobiologe. Dieses Partikel war interessant, aber es war nur eine kleine Dreingabe zur eigentlichen Hauptattraktion: einem Dinosaurier. Einem Dinosaurier, der tatsächlich an dem Meteoriteneinschlag von Chicxulub gestorben war. Bei diesem Gedanken kroch ihm ein Schauer über den Rücken. Wieder einmal versuchte er, seinen Enthusiasmus zu zügeln.
Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, bis das Fossil sicher im Museum verwahrt werden konnte. Vor allem brauchte er dieses verdammte Notizbuch – sonst konnte er den Rest seines Lebens damit zubringen, in diesen Canyons herumzuirren. Mit klopfendem Herzen entfernte er das Präparat und fuhr das Gerät herunter. Sorgfältig schloss er die CDs und die Präparate in seiner Aktentasche ein und machte noch einen Kontrollgang durch das Labor, um sicherzustellen, dass nichts, nicht die geringste Spur, zurückgeblieben war. Dann schlüpfte er in seinen Mantel, verließ das Labor, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter sich ab.
Der spärlich erleuchtete Kellerflur erstreckte sich vor ihm, erhellt von ein paar Vierzig-Watt-Birnen und gesäumt von schwitzenden Wasserleitungen. Ein grässlicher Arbeitsplatz – er fragte sich, wie Melodie das aushielt. Selbst Wissenschaftliche Mitarbeiter und Assistenten wie er hatten Fenster in ihren Büros im vierten Stock.
Am ersten Knick des Flurs
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