Der Canyon
Höhle war plötzlich stockdunkel. Sie ließ sich zu Boden fallen, als er einen Schuss in ihre Richtung abfeuerte, ein ohrenbetäubender Krach in diesem engen Raum.
Dem Schuss folgte ein wutentbrannter Schrei: »Miststück!«
Sally kroch rasch durch die Dunkelheit zu der Stelle, wo der Eingang sein musste. Sie wusste bereits, dass sie nicht durch den Tunnel davor aus der Mine fliehen konnte – sie hatte ja gehört, dass er das Tor verschlossen hatte. Ihre einzige Hoffnung war, tiefer in die Mine vorzudringen und einen anderen Ausgang zu finden – oder ein Versteck.
»Ich bring dich um!«, schrie er gurgelnd und feuerte blind in die Dunkelheit. Das Mündungsfeuer brannte ihr ein Bild von einem tobenden, nackten Mann auf die Netzhaut, der sich mit der Waffe in der Hand auf den Knien wand, der Körper verzerrt – und mit dem grotesken Bild des Dinosauriers verschmelzend.
Das Mündungsfeuer hatte ihr aber auch den Weg zur Tür gezeigt. Blind krabbelte sie hindurch und tastete sich weiter den Stollen entlang, so schnell sie es wagen konnte. Einen Moment später riskierte sie es, ein Streichholz anzuzünden. Vor ihr gabelte sich der Gang. Rasch warf sie das Streichholz in einen Stollen, huschte in den anderen und hoffte, betete, dass er sie zu einem sicheren Ort tief in der Mine führen möge.
10
Iain Corvus wartete in einem Taxi mit laufendem Motor vor dem Museum, bis er schließlich Melodies schlanke, mädchenhafte Gestalt in der Einfahrt zum Sicherheitszugang des Museums entdeckte. Er sah auf die Uhr: Mitternacht. Sie hatte sich reichlich Zeit gelassen. Er beobachtete, wie die schmale Silhouette sich nach links zur Central Park West wandte, in Richtung Uptown – zweifellos war sie auf dem Heimweg zu irgendeiner ärmlichen Bude an einer Bahnlinie irgendwo auf der Upper West Side.
Corvus verfluchte sich erneut für seine Dummheit. Fast vom Beginn ihres Gesprächs an war ihm klar gewesen, dass er einen kolossalen Fehler gemacht hatte. Er hatte Melodie eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten in den Schoß geworfen, und sie brauchte sie nur aufzufangen und damit zur Touchdown-Zone zu rennen. Da er der höherrangige Wissenschaftler war, würde natürlich sein Name zuerst im Titel erscheinen, aber der Löwenanteil der öffentlichen Anerkennung würde ihr zufallen, und niemand würde sich von der bloßen Reihenfolge täuschen lassen. Sie würde seinen Ruhm schmälern, wenn nicht ganz an sich reißen.
Zum Glück gab es eine einfache Lösung für dieses Problem, und Corvus beglückwünschte sich dafür, dass sie ihm noch rechtzeitig eingefallen war.
Er wartete, bis Melodie in der Dunkelheit verschwunden war, drückte dem Taxifahrer fünfzig Dollar in die Hand und stieg aus. Er ging über die Straße zum Sicherheitseingang, passierte mit gezückter Karte und einem knappen Nicken den Wachmann und stand zehn Minuten später im Mineralogielabor vor ihrem verschlossenen Probenschrank. Er schob seinen Generalschlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und erblickte zu seiner Erleichterung einen Stapel CD-ROMs, Disketten und die präparierten Sektionen der Probe, fein säuberlich aufgeräumt. Es erstaunte ihn, wie viel sie in nur fünf Tagen zustande gebracht hatte, wie viele Informationen sie seiner Probe entlockt hatte, Informationen, die ein weniger begabter Wissenschaftler vielleicht in einem Jahr herausgeholt hätte – wenn überhaupt.
Er griff nach den CDs, allesamt beschriftet und kategorisiert. In diesem Fall war der Besitz der CDs und der Probe nicht die halbe Miete – sondern alles, worauf es ankam. Ohne diese konnte sie keinerlei Anspruch auf ihre Entdeckungen erheben. Es war nur recht und billig, dass er den Ruhm dafür erntete. Schließlich war er derjenige, der alles aufs Spiel setzte – sogar seine Freiheit –, um das Dinosaurierfossil für das Museum zu beanspruchen. Er war es, der das gute Stück einem illegalen Fossilienjäger aus den Fängen gerissen hatte. Er war derjenige, der ihr diese einmalige Chance auf dem Silbertablett serviert hatte. Wenn er nicht so viele Risiken auf sich genommen hätte, hätte Melodie Crookshank gar nichts zu untersuchen gehabt.
Sie würde sich damit abfinden müssen, dass er ihre Forschungsarbeit an sich riss – was blieb ihr auch anderes übrig? Sollte sie sich mit ihm anlegen? Wenn sie so etwas versuchte, würde keine Universität in diesem Land sie jemals einstellen. Was er hier tat, war kein Diebstahl. Es ging hier um die gerechte
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