Der Captain ist 'ne Lady
Meredith war zwar froh, dass es zwischen den Geschwistern zu keinem Streit gekommen war, aber dafür war nun sie in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.
“Ach, jeder Mensch freundet sich mit Pferden an”, meinte Abby und warf ihrem Bruder einen bezeichnenden Blick zu. “Wichtig ist nur das richtige Training, und meiner Ansicht nach gehören Ringkämpfe und Klammergriffe nicht dazu.”
Meredith wurde verlegen, wünschte sich weit weg und war überzeugt, Abby nie mehr in die Augen sehen zu können.
“Weißt du noch, wie ich während meiner Highschool-Zeit im Sommerlager der Kirche den anderen Fassrennen beigebracht habe?”, fragte Abby ihren Bruder.
Cinco nickte und blickte verstohlen zu Meredith.
Abby störte sich nicht daran. “Also, sobald Pastor Johnson hörte, dass ich nach Hause komme, hat er mich angerufen. Er möchte, dass ich seine Jugendgruppe unterrichte. Unsere Kirchengemeinde kümmert sich um Problemkinder”, erklärte sie Meredith. “Seit einigen Jahren schon holen wir sie aus den Großstädten zu uns aufs Land, um sie negativen Einflüssen zu entziehen. Bei den meisten genügt ein wenig Zuwendung. Wenn man ihnen eine Chance bietet, werden sie zu anständigen Menschen.”
Abby gab sich so unbefangen, als hätte sie keine Bemerkung über das Verhalten ihres Bruders gemacht, die Meredith in Verlegenheit gebracht hatte.
“Diese Jugendlichen erhalten bei uns ein neues Zuhause”, fuhr sie fort. “Pastor Johnson möchte ihnen außerdem zeigen, wie das Leben auf einer Ranch läuft. Sie sollen lernen, wie man reitet und mit Tieren umgeht. Er ist der Ansicht, dass man ihnen auf diese Weise am leichtesten die richtigen Werte vermitteln kann. Und darum möchte er, dass auf verschiedenen Ranches Kurse abgehalten werden. Wenn Sie ohnedies eine Weile auf der Gentry-Ranch bleiben, könnten Sie doch an meinem Kurs teilnehmen. Was meinen Sie?”
Meredith suchte verzweifelt nach einer Ausrede, um keinen Reitunterricht nehmen zu müssen, doch Abby war so nett und freundlich und ihr Angebot klang so aufrichtig, dass sie schwieg.
“Ach bitte, machen Sie mit”, drängte Abby. “Ich sorge schon dafür, dass es Ihnen Spaß macht. Und ich wäre froh, jemanden in meinem Alter bei mir zu haben. Schließlich bin ich nicht viel älter als diese Jugendlichen, und es macht mich nervös, wenn ich mir vorstelle, dass ich mit ihnen umgehen und ihnen etwas beibringen muss.”
“Ich … ich denke, das lässt sich einrichten”, erwiderte Meredith stockend und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Leben, dass ein anderer Mensch sie aufrichtig mochte. Plötzlich war es ihr wichtig, was Cincos Schwester von ihr hielt.
“Großartig!”, rief Abby. “Wir fangen gleich morgen nach der Schule an. Der Pastor schickt sechs oder sieben Jugendliche mit dem Wagen der Kirche zu uns. Ich möchte gern die Koppel hinter den Ställen benutzen. Jake habe ich schon gefragt, und er meint, das geht in Ordnung.” Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fügte herausfordernd hinzu: “Du könntest Meredith doch morgen Nachmittag die Koppel zeigen. Danach bleibt es dir überlassen, was du tust. Ich werde mich dann um sie kümmern und dafür sorgen, dass sie nach dem Kurs wieder ins Haus geht.”
Cinco konnte sich gut vorstellen, wie Meredith sich während des Gesprächs mit seiner Schwester gefühlt hatte. Die unerwartete Störung hatte ihn selbst sehr überrascht. Für Meredith musste es höchst peinlich gewesen sein, in einer intimen Umarmung ertappt zu werden.
Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie am liebsten vor Abby geflohen wäre. Ihn störte es nicht, dass seine Schwester zugesehen hatte. Es war sogar gut, denn Abby hatte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ohne ihr Auftauchen wäre ihm vermutlich die Situation völlig entglitten.
Meredith war so rot geworden und hatte so verlegen gewirkt, dass er ihr gern geholfen hätte. Abby hatte jedoch so viel geredet, dass er gar nicht richtig zu Wort gekommen war.
Während er schweigend mit Meredith zum Haus ging, damit sie sich vor dem Essen umziehen und duschen konnte, dachte er über die beiden Frauen nach, die nun unter seinem Dach wohnten.
Ob Abby ahnte, wie ähnlich sie ihrer Mutter geworden war? Seine kleine Schwester hatte Kay Gentrys Verschwinden am schwersten von ihnen allen getroffen. Sie war damals erst zwölf gewesen, als ihre Eltern fortgingen und nie zurückkamen. Seit dem Gedenkgottesdienst hatte Abby nie wieder von ihrer Mutter gesprochen –
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