Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Cartoonist

Der Cartoonist

Titel: Der Cartoonist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sean Costello
Vom Netzwerk:
Müdigkeit
wich, weil ihnen allen ihre missliche Lage bewusst wurde. Auf dem Rücksitz
fummelte Jake mit der Straßenkarte herum, die er beim Versuch, sie
aufzuklappen, zerriss. Und während er mit der Karte kämpfte, kreischte er mit
hoher, überdrehter Stimme: Wo sind wir überhaupt ? Was
ist das für eine Straße ? Old Burwash, blaffte Scott
zurück ... Old Burwash Road ...
    Scott geriet
ins Stolpern, fast wäre er hingefallen.
    Und plötzlich
war es so, als sei er durch die fragile Schicht gebrochen, die geistige
Gesundheit von geistiger Umnachtung trennt. Das Summen in seinem Kopf wurde
plötzlich ohrenbetäubend laut, verschluckte die Geräusche in seiner Umgebung
und verzerrte sie gleichzeitig wie durch einen Lautsprecher: das leise Seufzen
des Windes, das regelmäßige Tropfen des Regens, das Pochen seines Herzens, das
gegen seine Rippen schlug. Als er sich bückte, um die Zeichnungen aufzuheben,
schienen die Cartoons für einen Augenblick zum Leben zu erwachen. Körper in
verschiedenen Stadien der Verwesung bahnten sich einer nach dem anderen mit den
Schultern den Weg aus der bebenden Erde. Er meinte, sie zu hören und zu
riechen. Dieser Moment war so irreal, dass er sich mit einem Ruck umwandte, um
die Gräber hinter sich ins Visier zu nehmen.
    Aber unter dem
sterbenden Gras und den anwachsenden Regenpfützen lag die Erde völlig unberührt
da und breitete
    den schweren
Mantel des Todes über die Dahingeschiedenen.
    Scott lehnte
sich gegen die Mauer aus Feldsteinen, presste die klammen
Finger gegen die Schläfen und wartete darauf dass sich das Hämmern in seinem
Kopf endlich legte. Als es zu einem erträglichen Pochen abgeebbt war, stieg er
über die niedrige Einfriedung und machte sich zitternd und mit großen, steifen
Schritten auf den Weg durch die Old Burwash Road. Der spätsommerliche Regen
ließ ihn bis ins Mark frösteln.
    »Ist sie
tot?«
    Rund
fünfhundert Meter westlich der Stelle, an der er über die Friedhofsmauer
gestiegen war, blieb er stehen. Als er zu Boden schaute, meinte er, auf dem
Asphalt ganz schwach einen fast kreisrunden Fleck zu erkennen.
    Und dann stand
Brian Horner hinter ihm und fragte wieder und wieder: »Ist sie tot? Ist sie tot ?« Seine Stimme war schrill vor Entsetzen. »Ist sie tot?«
    Kurz vor der
Morgendämmerung standen sie im leichten Nebel herum, verängstigt und wie zu
Standbildern erstarrt. Alle drei beugten sich über den steifen Körper des
Kindes und sahen zu, wie sich die rote Pfütze, die den zarten Kopf wie ein
Heiligenschein umgab, immer weiter ausbreitete. In ihrem hübschen, weißen
Sommerkleid voller Rüschen und Spitzen lag die Kleine zusammengekrümmt auf der
Seite. Ein Bein war völlig unnatürlich verdreht. Die Arme hatte sie vor sich
gestreckt, als hätte sie noch versucht, sich irgendwo festzuhalten, während sie
sterbend durch die feuchte Morgenluft gesegelt war. Sie hatte schneeweiße Söckchen
getragen, aber am verdrehten Bein war das Söckchen halb vom Fuß gerutscht. Die
Wucht des Aufpralls hatte sie auf der Stelle aus
    den frisch
geputzten Sonntagsschuhen geschleudert. (In diesem Augenblick wurde Scott klar,
dass es tatsächlich Sonntag war. Sie war bereits für den Kirchgang angezogen
gewesen.) Ist sie tot ?
    Das Kätzchen,
dem sie nachgelaufen war, kam aus dem Schatten geschossen und miaute dabei zum
Herzerbarmen -eine winzige, von Gott und der Welt verlassene Kreatur. Aber als
der Wind das seidige Haar der Kleinen erfasste, sprang das Kätzchen munter
vorwärts und schlug spielerisch nach den durcheinander wirbelnden silberweißen
Strähnen.
    Scott, der
sich so fühlte, als müsse sein Kopf gleich platzen, kniete sich an ihre Seite
und legte einen Finger auf ihre Halsschlagader. Jedes bisschen Empfindsamkeit,
das er noch besaß, konzentrierte er auf die Fingerspitze. Dazu murmelte er
innerlich Gebete, die er seit vielen Jahren, allzu vielen Jahren, nicht mehr
gesprochen hatte.
    Aber er konnte
nichts spüren, nichts als weiche Haut und nachlassende Wärme. Als er sich zu
seinen Freunden umdrehte, die im Hintergrund immer noch warteten und fast wie
gesichtslose Silhouetten wirkten (wie eine Schar von Gespenstern, hatte
er später gedacht - jetzt fiel es ihm wieder ein), standen Tränen in seinen
Augen.
    Er wandte sich
wieder dem Kind zu und stellte dabei seltsam distanziert und mit medizinischer
Nüchternheit fest, dass es ein Albino war. Gleich darauf geriet die Welt
ringsum aus den Fugen und schwand aus seinem Blickfeld, als sich nach und

Weitere Kostenlose Bücher