Der Cellist von Sarajevo
völlig bedeutungslos. Vielleicht bekommt man die nötigen Armaturen nicht, vielleicht liegt es an den Pumpen, vielleicht ist die Quelle unter der Brauerei so ergiebig, dass sich die Mühe nicht lohnt. Er weiß es nicht genau, hofft aber, dass jemand den Überblick hat und sich absolut sicher ist, dass es genügend Wasser gibt.
Er beugt sich vor, bis seine Flaschen den Boden berühren, streift dann das Seil ab, das sich über Schultern und Nacken spannt. Er kniet sich hin, stellt Frau Ristovkis Flaschen vor sich hin und bindet seine los. Rasch schraubt er die Deckel ab und legt sie auf einen ordentlichen Haufen. Seine Flaschen stehen links von ihm, je vier in zwei Reihen. Er streckt ein paarmal die Hände, holt tief Luft und kreist mit den Schultern, bis er spürt, wie sich seine Muskeln lockern. Dann nimmt er die erste Flasche und hält sie unter das kalte Wasser. Als sie voll ist, stellt er sie rechts neben sich, beugt sich, so schnell er kann, nach links, ergreift die nächste und führt sie in einer fließenden Bewegung unter den Wasserstrom, damit sich möglichst wenig auf die Straße ergießt. Er könnte nicht sagen, warum er das macht, wenn man ihn danach fragen würde. Er möchte einfach kein Wasser verschwenden. Es geht nicht so sehr ums Wasser, als vielmehr darum, was das Wasser bedeutet. Für ihn bedeutet Wasser inzwischen Leben, und er möchte nichts damit zu tun haben, wenn noch mehr vergeudet wird. Mit geübter Hand füllt er eine Flasche nach der anderen.
Kenan hat gehört, dass man die Granate, die einen tötet, nicht hört. Er weiß nicht, ob das stimmt, hat keine Ahnung, woher jemand das wissen will oder auch nur so tun kann, als wüsste er es. Als er jedoch das verräterische Pfeifen einer nahenden Granate hört, weiß er, dass er das Geräusch noch nie so laut gehört hat. Die Granate wird ganz in seiner Nähe einschlagen, er kann nur nicht genau einschätzen, an welcher Stelle, weil er keine Erfahrung damit hat, wie sich anhand der Lautstärke die Entfernung ermessen lässt. Einen Sekundenbruchteil vor dem Einschlag denkt er daran, wie er als kleiner Junge in eine Prügelei auf dem Schulhof geriet. Er war kein großer Kämpfer, hatte sich noch nie an einer Schlägerei beteiligt, aber er kann sich daran erinnern, wie er die Faust des anderen Jungen auf sich zukommen sah, langsam wie ein Gähnen, und bei sich dachte: Gleich kriege ich einen Schlag ins Gesicht. Jetzt denkt er: Gleich werde ich sterben.
Die Granate schlägt ein, und unmittelbar nachdem er das ohrenbetäubendste Krachen vernimmt, das es seiner Meinung nach überhaupt geben kann, wird Kenan von den Beinen gerissen. Es fühlt sich an, als wäre der Junge, der ihn vor vierzig Jahren geschlagen hat, Preisboxer geworden und hätte ihn k. o. geschlagen. Er landet auf dem Rücken und bleibt benommen liegen. Seine Ohren klingen, so dass er das Pfeifen der zweiten Granate nicht wahrnimmt, aber er hört die Detonation. Eine halbe Ewigkeit, so kommt es ihm vor, hallt sie in seinem Kopf wider, dann herrscht ein paar Sekunden lang tiefe Stille. Er fragt sich, ob er taub geworden ist. Sein Rücken ist nass, und er vermutet, dass er verletzt ist, aber als er wieder etwas hören kann, vernimmt er rundum Geschrei und schließt daraus, er müsste etwas spüren, wenn er verletzt wäre.
Kenan stellt fest, dass er sich nicht bewegen kann. Er versucht es, aber seine Gliedmaßen reagieren nicht. Er fragt sich, ob er tot ist. Er sieht Leute an sich vorbeirennen, die Straße entlang nach rechts, und er weiß nicht, warum sie nicht stehen bleiben. Dann bemerkt er, dass er den Fuß bewegen kann, dann das Bein, dann das andere Bein und die Arme, und ihm wird klar, dass er noch unter den Lebenden weilt. Er setzt sich auf, tastet sich ab und stellt fest, dass ihm nichts fehlt. Er sitzt in einer Wasserlache, doch seine Flaschen sind nicht umgekippt. Er weiß nicht, ob er erleichtert sein oder sich schämen soll.
Die Granate ist etwa dreißig Meter weiter unten eingeschlagen, nahe dem Ende der Schlange. Er steht auf und geht langsam zu der Stelle. Etliche Menschen sind bereits dort, laufen hektisch herum und versuchen diejenigen zu retten, die gerettet werden können. Vor ihm liegt ein Fuß auf dem Asphalt. Der Schuh ist unbeschädigt, ein Teil der Socke ebenfalls. Es sieht unwirklich aus. Dann bemerkt er eine Frau, die ihr Bein hält, wie betäubt wirkt, als könnte sie es auch nicht glauben. Sie schaut Kenan an und schreit los, deutet auf ihr Bein, dorthin,
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