Der Cellist von Sarajevo
Ersteren gehört, und wünschte, er wäre bei den zweiten.
Er blickt auf seine Füße. Er ist nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, an der die erste Granate eingeschlagen hat. Hier sind nicht mehr viele Menschen übrig geblieben, nicht mehr als ein Dutzend. Hier und da sind dunkelrote Flecken auf der Straße, aber dort, wo er steht, ist der Asphalt sauber. Wasser strömt aus den Rohren, die nicht beschädigt wurden, und fließt wie ein klarer Bachlauf mitten auf der Straße entlang. Am Straßenrand sind es nur Rinnsale, rosa verfärbt, die das erst vor wenigen Minuten vergossene Blut wegwaschen und fortschwemmen.
Kenan geht den Hügel hinauf zu seinen Flaschen. Seine sechs sind voll. Er bindet sie zusammen, drei auf jeder Seite. Er schaut auf das Wasser, das vor ihm aus dem Rohr schießt. Es wird nicht lange dauern, bis die Straße wieder sauber ist. Und deshalb geht das immer weiter. Häuser werden zusammengeschossen, niedergebrannt, eingeebnet, Straßenbahnen zerstört, Straßen und Brücken gesprengt, und man kann es sehen, kann es anfassen, jeden Tag daran vorbeigehen. Aber wenn Menschen sterben, werden sie weggeschafft, in Krankenhäuser oder auf Friedhöfe gebracht, und noch ehe die Wunden verheilt oder die Toten erstarrt sind, kann man die Stelle nicht mehr erkennen, an der sie niedergemäht wurden, sieht nicht mehr, dass dort etwas Ungewöhnliches geschehen ist. Deswegen können die Männer auf den Bergen ungestraft töten. Wenn Leichen auf den Straßen lägen, an Ort und Stelle verfaulen würden, wenn das Wasser aus diesen Rohren Blut, Haut und Knochen nicht wegwaschen würde, dann müssten die Männer auf den Bergen vielleicht aufhören, würden vielleicht sogar aufhören wollen.
Er streckt die Hände aus und drückt sie auf das Rohr. Es lässt sich mühelos zuhalten, so dass kein Wasser mehr herauskommt, aber aus den anderen Rohren fließt es weiter. Er ist bis auf die Haut durchweicht, und ihm wird klar, dass er hier jahrelang stehen und das Rohr zuhalten kann, ohne etwas auszurichten. Er tritt zurück und betrachtet das bergab strömende Wasser. Er stellt sich vor, wie es durch die Straßen zur Miljacka rinnt, von dort aus Sarajevo verlässt und in Richtung Meer fließt.
Oben an der Straße bringt ein alter Jugo-Kombi die letzten Verwundeten weg. Dort liegen sieben Tote am Straßenrand. Ein großer, blauer Kleinbus fährt vor, aus dessen hinterer Tür vier Männer steigen, die Leichen an Armen und Beinen ergreifen und in den Wagen laden. Die Toten werden mit den Füßen voran ins Fahrzeug geschoben, und beim Hochheben kippen ihre Köpfe nach hinten, als wollten sie einen letzten Blick auf die Stätte werfen, an der sie gestorben sind.
Kenan nimmt eine von Frau Ristovskis Flaschen. Er achtet nicht auf das vergeudete Wasser, als sie ihm kurz entgleitet und leicht wegkippt, und als sie voll ist, greift er auch nicht hastig zur zweiten Flasche. In aller Ruhe schraubt er den Deckel auf, dann füllt er die zweite. Als er fertig ist, stellt er die Flaschen auf den Boden und bleibt einfach stehen. Er hat sich an den Lärm der Luftschutzsirenen gewöhnt, hat ihn eine Zeitlang gar nicht mehr wahrgenommen. Jetzt hört er ihn wieder, und er horcht auf das Geheul, auf das Fauchen der Granaten, das Gewehrfeuer von beiden Seiten. Er hält die Hände unter das Wasser und wäscht sie, obwohl sie nicht schmutzig sind, beugt sich vor und streift das Seil über seinen Kopf. Er ergreift Frau Ristovkis Flaschen, mit jeder Hand eine, und richtet sich auf. Das Seil schneidet ihm in Hals und Schultern, deshalb bückt er sich wieder und zieht es zurecht, bis es sich bequemer tragen lässt. Dann richtet er sich erneut auf und wendet sich von den Männern oben am Berg ab, die die letzten Toten in den Kleinbus laden. Er schreitet bergab, an der Stelle vorbei, wo die erste Granate einschlug, dann an der, wo die zweite hochging. Er bleibt nicht stehen, blickt nicht auf den Boden. Dort gibt es nichts mehr zu sehen.
Als er unten angekommen ist, bleibt Kenan stehen. Er weiß nicht recht, welchen Weg er einschlagen soll. Er kann sich in Richtung Osten halten, bei der Bibliothek die gleiche Brücke überqueren, über die er gekommen ist, oder geradeaus bergab gehen, über eine der beiden Brücken, die auf seinem Weg liegen. Beide Strecken werden im Moment allerdings mit Granaten beschossen, und er muss das Wasser schleppen, so dass er kaum rennen kann. Er kommt zu dem Schluss, dass ihm nur zwei Möglichkeiten bleiben. Entweder
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