Der Cellist von Sarajevo
sucht er sich einen Unterstand und wartet ab, bis das Artilleriefeuer aufhört, was stundenlang dauern kann, oder er geht über die umurija-Brücke beziehungsweise das, was noch davon übrig ist. Allzu verlockend ist keine der Alternativen. Die Vorstellung, stundenlang warten zu müssen, über Nacht womöglich, bevor er die Miljacka überqueren kann, sagt ihm allerdings noch weitaus weniger zu, deshalb entschließt er sich, über die Cumurija zu gehen. Das bedeutet, dass er seine Last über blanke Stahlträger schleppen muss und Gefahr läuft, in den Fluss zu fallen. Er wird mindestens zwei-, vielleicht sogar dreimal gehen müssen, bis er das ganze Wasser auf die andere Seite geschafft hat. Aber es wird die Mühe wert sein, wenn er dadurch früher nach Hause kommt, weg von diesem Wahnsinn, und sich in einer wenn auch trügerischen Sicherheit wiegen kann.
Kenan wendet sich nach links, in Richtung Westen. Als er zu der Straße kommt, die nach Norden führt, zu einer der näher gelegenen Brücken, blickt er hinab auf den Fluss und sieht kurz vor der Auffahrt ein brennendes Auto. Es ist ein Jugo, der gleiche Typ und die gleiche Farbe wie der Wagen, den er bei der Brauerei gesehen hat. Er hofft, dass es nicht derselbe ist.
Er holt tief Luft, dann noch einmal und blickt auf die andere Straßenseite. Er sucht sich einen einigermaßen gut gedeckten Hauseingang aus und fasst Frau Ristovkis Flaschen fester. So schnell er kann, läuft er auf den Eingang zu. Als er in der Mitte der Straße ist, fällt ihm auf, dass er watschelt wie ein Pinguin, und er versucht sich vorzustellen, wie das auf jemanden wirken muss, der ihn beobachtet. Dann fällt ihm ein, dass die einzigen Beobachter, über die er sich Gedanken machen sollte, ihn durch ein Zielfernrohr betrachten. Wie ein Pinguin zu wirken sollte seine geringste Sorge sein. Doch dann fragt er sich, ob die Gefahr, dass man auf ihn schießt, größer oder kleiner ist, wenn er watschelt wie ein flugunfähiger Vogel, ob die Männer auf den Bergen eine komische Gestalt erst recht ins Visier nehmen oder eher verschonen. Würde er den Krieg überleben, wenn er sich als Pinguin verkleidete?
Er erreicht sein Ziel und legt eine Ruhepause ein. Er hat es über die Straße geschafft, ohne beschossen zu werden, aber er wird nie erfahren, ob jemand bewusst nicht auf ihn geschossen hat oder ob ihn niemand gesehen hat. Das macht ihm zu schaffen, diese Ahnungslosigkeit, und dann wird ihm klar, dass er sich über Pinguine lustig gemacht hat, als er die Straße überquerte und sich in einer Grauzone zwischen Leben und Tod befand. Es widert ihn an. Unvorstellbar, dass Ismet in einem Schützenloch an der Front hockt und sich derart albernen, unsinnigen Gedanken hingibt. Genau aus diesem Grund ist er, Kenan, ein Feigling, unfähig, nach einem Massaker den Verwundeten zu helfen oder einem relativ leicht verletzten Mann bei der Suche nach seinem Hund. Er hat dem Mann nicht geholfen, hat seinerseits nicht Ausschau gehalten, hat nicht einmal daran gedacht. Er erinnert sich an den Hund, einen braunen Terrier, und würde ihn wiedererkennen, wenn er ihn sähe. Vielleicht ist er noch da. Er sollte zurückgehen. Er könnte in einem Hauseingang stehen oder hinter einem Haufen Schutt und darauf warten, dass ihn jemand findet.
Aber Kenan stellt sein Wasser nicht ab, geht nicht zurück und sucht nach dem Hund. Er weiß, dass er tot ist, wusste es von Anfang an, und selbst wenn es nicht so wäre, würde er nicht zurückgehen. Die Angst hat ihn ebenso gelähmt, als hätte ihm jemand eine Kugel ins Rückgrat gejagt, und er bringt es einfach nicht über sich. Er schämt sich zutiefst. Er möchte jetzt nur noch heimgehen und ins Bett kriechen.
Er verlässt den Hauseingang und geht weiter nach Westen. Links von ihm ist eine leerstehende Kaserne, die von ihren ehemaligen Bewohnern bis auf die Grundmauern zusammengeschossen wurde. Rechts von ihm ist At-Mejdan, wo Sklaven verkauft, Menschen hingerichtet und später Pferderennen veranstaltet wurden. Jetzt ist dort ein Park beziehungsweise wäre einer, wenn es in der Stadt noch so was wie einen Park gäbe. Vor dem Krieg ist er mit seiner Familie oft zu Freiluftkonzerten hierhergekommen, und manchmal hat er an warmen Herbsttagen auch allein auf einer Bank gesessen und Kaffee getrunken. Er geht so rasch wie möglich, bleibt nur ab und zu stehen, um zu verschnaufen, hält sich nicht länger auf als nötig. Er versucht an nichts zu denken, jeden Gedanken aus seinem Kopf zu
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