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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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wo der Fuß war. Zwei Männer stürmen zu ihr, und einer bindet ihr mit einem Stück Stoff den Oberschenkel ab, worauf sie ohnmächtig wird. Die Männer heben sie hoch, tragen sie die Straße entlang zu einem Auto und setzen sie neben einen Mann im Fond, dem aus einem zehn Zentimeter langen Riss am Kopf Blut ins Gesicht läuft. Sein Ohr hängt nur noch an einem Hautlappen, aber er scheint es nicht wahrzunehmen. Die Männer schließen die Tür hinter der Frau, gehen um den Wagen herum und schauen ihn an. Sie sprechen kurz miteinander, holen ihn aus dem Auto und legen ihn an den Straßenrand. Er bewegt sich nicht, doch seine Augen sind offen, und Kenan wird klar, dass der Mann tot ist.
    Ein anderer Trupp mit weiteren Verletzten kommt hinzu, einem Mann mit einer Bauchwunde und einem Kind, etwa zehn Jahre alt, das bewusstlos ist. In aller Eile setzen sie sie in den Wagen, den Mann hinten, das Kind vorne. Sie erinnern Kenan an eine Familie. Höchstwahrscheinlich sind sie sich noch nie zuvor begegnet. Er fragt sich, ob es seiner Familie gutgeht, und ist dankbar dafür, dass er keins seiner Kinder mitgenommen hat, obwohl sie ihn ein ums andere Mal darum bitten und er froh wäre, wenn er Gesellschaft hätte und ihm jemand beim Wassertragen zur Hand ginge. Er darf nicht riskieren, dass seine Kinder eines Tages mit einer anderen Familie heimfahren müssen.
    Einer der Männer schlägt auf das Rückfenster des Wagens, worauf er davonrast. Kenan dreht sich um und sieht den Mann von vorhin vor sich, den Mann mit dem Hund. Er hat noch immer die Leine in der Hand, beziehungsweise ein Stück davon. Der untere Teil ist abgerissen, und das Bein des Mannes blutet. Er steht da, schaut erst auf das Ende der Leine, wo der Hund sein sollte, und sucht dann die Straße ab.
    »Haben Sie meinen Hund gesehen?«, fragt er schließlich Kenan.
    »Nein«, antwortet Kenan. »Sie bluten.«
    Der Mann scheint ihn nicht zu hören. »Mein Freund, haben Sie meinen Hund gesehen?«
    Kenan legt ihm die Hand auf den Arm. »Sie sind verletzt. Sie brauchen Hilfe.«
    Der Mann beachtet ihn nicht, schüttelt seine Hand ab. Er humpelt davon, hält nach ein paar Schritten eine Frau an und wiederholt seine Frage.
    In der Ferne ertönen Sirenen, die von der anderen Seite des Flusses kommen, dann hört er Granaten einschlagen, gefolgt vom trockenen Knallen der Scharfschützengewehre. Sie schießen auf die Rettungswagen, die man zu ihnen schickt, denkt er, und als die Sirenen näher kommen, macht er sich Sorgen, dass sie das Feuer auf ihn ziehen könnten, auf die Brauerei. Doch die Männer auf den Bergen können die Brauerei jederzeit unter Beschuss nehmen. Sie feuern absichtlich auf die Rettungswagen, um allen klar zu machen, dass keine Hilfe kommen wird, wenn sie es nicht wollen. Irgendwo schaltet jemand den Luftschutzalarm ein, der die Sirenen der Rettungswagen übertönt. Am oberen Ende der Straße hält ein Auto, in das in aller Eile weitere Menschen geladen werden. Die Reihe der Toten am Straßenrand ist länger geworden.
    Rundum brüllen Menschen, rennen herum, schreien, stöhnen. Diejenigen, die verletzt sind, aber noch laufen können, schleppen sich zum oberen Ende der Straße und hoffen darauf, dass es nicht lange dauern wird, bis ein Auto sie mitnimmt. Kenan ist der Meinung, dass sie die Granateneinschläge am Fluss, der sie vom Krankenhaus trennt, genauso gut hören können wie er, folglich müssen sie wissen, dass ihr Leiden noch lange nicht vorüber sein wird. Diejenigen, die nicht laufen können, werden getragen. Die ersten Rettungswagen treffen ein, worauf ein halbes Dutzend Tragen an wartende Helfer übergeben werden. Der Luftschutzalarm schwillt an und erstirbt, schwillt dann wieder an. Nach einer Weile kommt es ihm vor wie die Atemzüge eines Asthmatikers.
    Kenan kann hier dreierlei Menschentypen erkennen. Diejenigen, die davonliefen, sobald die erste Granate einschlug, weil ihr Selbsterhaltungstrieb stärker ist als Mitgefühl oder Bürgerpflicht. Diejenigen, die nicht davongelaufen sind, um ihre eigene Haut zu retten, sind überall mit dem Blut der Verwundeten verschmiert, weil sie fieberhaft damit beschäftigt sind, diejenigen zu retten, die gerettet werden können, und dann die anderen wegzuschaffen, die nie wieder irgendwo hingehen werden. Dann gibt es eine dritte Gruppe, zu der Kenan gehört. Sie stehen mit offenem Mund da und sehen zu, wie die anderen herumrennen und Hilfe leisten. Er ist überrascht, dass er nicht davongelaufen ist, nicht zu

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