Der Cellist von Sarajevo
verbannen, der ihn lähmen könnte.
Als er nach Norden abbiegt, kommt eine Reihe grüngelber Mietshäuser in Sicht, im Volksmund Papageien genannt, zumindest von jenen Einwohnern der Stadt, die sie für scheußlich halten. Kenan hat dazu keine Meinung, außer dass er nicht darin wohnen möchte. Jetzt jedoch ist er froh, sie zu sehen, denn sie stehen an der Auffahrt zur umurija-Brücke.
Auf der anderen Seite ist gerade ein Mann losgelaufen, und obwohl zwei Personen die Brücke gleichzeitig überqueren können, wenn einer in der Mitte beiseitetritt und den anderen vorbeilässt, ist sich Kenan nicht sicher, ob er mit den Wasserkanistern das Gleichgewicht halten kann, und außerdem weiß er nicht, ob der andere ihm Platz macht, deshalb wartet er lieber. Er kann das Wasser ohnehin nicht auf einmal hinübertragen. Er könnte es vielleicht, wenn Frau Ristovkis Flaschen Henkel hätten und er sie mit seinen zusammenbinden könnte, aber unter den gegebenen Umständen geht das nicht. Er kommt jedoch zu dem Schluss, dass er seine Flaschen trotz des Gewichts in einem Zug hinüberbringen kann. Die Last ist gut verteilt, und wenn er jeweils nur drei tragen würde, könnte er aus dem Gleichgewicht geraten. Frau Ristovkis Flaschen wird er gut verstecken, damit sie niemand mitnimmt, und später holen. Wenn er seine Flaschen nicht mehr schleppen muss, kann er sich eine unter den Arm klemmen, die andere in die Hand nehmen und sich mit der freien Hand am Brückengeländer festhalten.
Er wartet, bis der Mann auf der Brücke bei ihm ist, nickt ihm im Vorbeigehen zu und bringt dann Frau Ristovkis Flaschen zu einer unauffälligen Stelle, einem kleinen Loch zwischen Brückenauffahrt und Straße. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass man sie nicht sehen kann, schultert er seine Wasserlast und tritt auf die Brücke.
Der Fluss ist so seicht, dass er die Trümmer der einstigen Fahrbahn am Grund sehen kann. Er fragt sich, wie sie einfach wegbrechen konnten, so als hätte eine Schlange ihre Haut abgestreift. Er versucht, das Wasser unter sich auszublenden und sich zu konzentrieren.
Nach ein paar Schritten muss er stehen bleiben und die Flaschen festhalten. Sie schwingen wie Pendel, die mit jedem Schritt weiter ausholen. Er bremst sie mit der freien Hand und wartet, bis sie bewegungslos herabhängen, bevor er weitergeht. Zweimal muss er noch stehen bleiben, bevor er die Mitte der Brücke erreicht. Während er wartet, blickt er nach Osten und dann zurück in Richtung Brauerei. Er versucht festzustellen, ob irgendetwas anders aussieht als heute Morgen, von dem noch immer qualmenden Wrack des Jugo einmal abgesehen. Dann wird ihm klar, dass nichts anders sein sollte, weil sich nichts verändert hat. Nur weil er diesmal dort war, näher am Ort des Gemetzels als sonst, heißt das noch lange nicht, dass es für die Stadt etwas zu bedeuten hat. Es ist ein Tag wie jeder andere.
Die Luftschutzsirenen sind verstummt. Vermutlich schon eine ganze Weile, aber er hat es gerade erst wahrgenommen. Irgendwo weit im Westen, in Richtung Flughafen, schlägt eine Granate ein. Er geht ein paar Schritte, lässt seine Last auspendeln, geht weiter. Er rutscht mit einem Fuß aus, so dass die Flaschen jäh nach vorn schwingen, ihn beim Zurückschlagen voll am Knie treffen und zur Seite schleudern. Er prallt so heftig ans Geländer, dass es ihm den Atem nimmt. Er hält sich mit beiden Händen fest und setzt den Fuß wieder auf den Träger, aber er zittert. Sein Herz schlägt wie wild, und mit einem Mal packt ihn die Wut, so wie wenn er mit dem Kopf an die Kante einer Schranktür oder einen anderen Gegenstand stößt, mit dem er nicht gerechnet hat, eine Wut auf alles und jeden zugleich. Er stürmt zum anderen Ende der Brücke, ohne stehen zu bleiben, und setzt sein Wasser ab. Er lässt sich fallen, drückt den Bauch an die Erde, ohne sich darum zu scheren, dass er ohne Deckung ist, ein leichtes Ziel, und drischt mit aller Kraft auf den Asphalt ein. Er schreit, erkennt aber die Laute nicht, die aus ihm dringen. Er klingt wie ein Kleinkind, wie ein Tier, wie eine Luftschutzsirene, wie ein Mann, der unter seiner eigenen Last zusammenbricht. Er hört, wie es nachlässt, verklingt, als wäre es nie da gewesen, dann wälzt er sich auf den Rücken und blickt zum Himmel auf.
Er ist müde. Er hat die Welt satt, in der er lebt, eine Welt, die er nie wollte, mit deren Erschaffung er nichts zu tun hatte, und er wünscht sich, es gäbe sie nicht. Er hat es satt, Wasser für eine
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