Der Cellist von Sarajevo
und fährt davon. Kenan hat keine Ahnung, wohin er unterwegs ist, aber er begreift nur zu gut, was er gerade mit angesehen hat, weiß, dass das Wasser für niemanden bestimmt ist, der es verdient.
Zunächst steht er schockiert da. Er kann kaum glauben, was er gesehen hat. Aber natürlich wird Wasser gekauft und verkauft. Alles wird gekauft und verkauft, warum also sollte es dabei anders zugehen? Was würde er bezahlen, wenn er Geld hätte, um diesen Tag ungeschehen zu machen, nicht losziehen und erleben zu müssen, was er gesehen hat? Trotzdem war es nicht rechtens. So etwas sollte nicht möglich sein.
Und jetzt ist er wütend. Er sieht nur noch den Mann in dem Trainingsanzug, der neben dem Mercedes steht, und würde ihm am liebsten an die Gurgel gehen. Er macht einen Schritt auf ihn zu, spürt, wie das Seil, an dem das Wasser hängt, von seiner Schulter gleitet. Er bleibt stehen, tut einen weiteren Schritt, bleibt wieder stehen. Er darf das Wasser nicht zurücklassen. Es wäre weg, bevor er bei dem Mann in dem Trainingsanzug angelangt ist.
Kenan hebt das Seil auf. Er wuchtet das Wasser hoch, dessen Last ihm mittlerweile vertraut ist. Er kann sich nicht vorstellen, dass er sie jemals wieder loswird. Sei es drum. Er wird dieses Wasser bis in alle Ewigkeit schleppen, wie Atlas den Globus, und das soll ihm recht sein. Er torkelt voran, hat nur noch den Mann im Trainingsanzug vor Augen.
Der Mann raucht eine Zigarette und schaut zurück zum Marktplatz. Seine Bewegungen wirken träge. Er hat es offenbar nicht besonders eilig. Er dreht sich um und blickt zu Kenan. Er schaut ihn an, scheint beim Anblick des Mannes, der mit seinem Wasser zu rennen versucht, zu lachen. Der Mann weiß nicht, dass er es auf ihn abgesehen hat, dass er deshalb so komisch wirkt. Kenan wird dadurch nur noch wütender.
Der Mann in dem Trainingsanzug schnippt die Zigarette auf den Boden, geht zur anderen Seite seines Wagens und öffnet die Tür. Er kramt in seinen Taschen herum, bis er eine Sonnenbrille findet. Er haucht die Gläser an, wischt sie an dem T-Shirt ab, das er unter dem Trainingsanzug trägt, und steigt ein. Der Mercedes springt an und rast davon. Als er in der Ferne verschwindet, hat Kenan erst drei Viertel des Wegs zurückgelegt.
Kenan geht weiter. Er hält an der Stelle inne, an der der Mercedes stand, und blickt auf die weggeworfene Zigarette. Sie qualmt noch, ist bei weitem nicht aufgeraucht. Es ist eine amerikanische Zigarette, eine Sorte, die Kenan eigentlich nie mochte, aber rauchen würde, wenn es sein müsste. Seit Kriegsausbruch hat er so eine nicht mehr gehabt.
Eine alte Frau huscht an ihm vorbei, bückt sich und hebt die Zigarette auf. Mit runzliger Hand wirft sie die Kippe in eine Blechbüchse und läuft weiter, ohne Kenan eines Blickes zu würdigen. Sie erinnert ihn eher an eine Krabbe als an einen Menschen.
Er hört Musik. Sie ist leise, wird ab und zu verweht, manchmal vom Straßenlärm übertönt, doch wenn es ruhiger wird, setzt sie sich wieder durch. Ohne zu wissen, warum, ohne einen Grund dafür benennen zu können, geht Kenan den Klängen nach, überquert die Straße und läuft zurück in Richtung Altstadt. Nach einer kurzen Häuserzeile wird die Musik lauter, und er sieht eine Menschentraube vor den Gebäuden am südlichen Ende der Straße. Sie schauen alle in dieselbe Richtung auf etwas, das er nicht erkennen kann.
Er geht um die Ecke, und dann sieht er es auch. Er findet eine freie Stelle an einer Hauswand, setzt seine Wasserflaschen ab und gesellt sich zu den anderen.
Kenan kennt diesen Mann. Er hat ihn schon spielen sehen, kann sich aber nicht mehr erinnern, wo. Sein Frack ist schmutzig, die Schuhe sind abgewetzt. Seine Haare sind schwarz und verfilzt, der Bart wirkt wie ein struppiges Anhängsel an einem langen, dicken Schnurrbart. Große, dunkle Ringe sind unter den Augen, die er geschlossen hat. Der Mann sieht aus, als wäre er in eine Schlägerei geraten.
Kenan hat schon davon gehört. Irgendjemand, Ismet vielleicht, womöglich auch seine Frau, hat ihm erzählt, dass ein Cellist Tag für Tag auf der Straße spielt, an der Menschen getötet wurden, die nach Brot anstanden. Vor etwa einer Woche war das. Der Cellist hatte alles mit angesehen, hatte es von seinem Fenster aus beobachtet. Als Kenan von dem Cellisten erfuhr, fand er das Ganze ein bisschen albern, ein bisschen rührselig. Was versprach sich der Mann davon, wenn er auf der Straße musizierte? Davon wurde niemand wieder lebendig, niemand
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