Der Chinese
Ihr?«
»Nüt Apartigs…«
Die Frau schluckte, und ihr Adamsapfel rollte hin und her, wie ein steinernes Kügeli unter einem schlaffen Tuch. Es wurde langsam dunkel im Zimmer; plötzlich flammten auf der Straße die Laternen auf und klebten viereckige, gelbe Lichttücher an die Decke. Die Frau schwieg. Ihr Gesicht lag im Finstern; der Rock hatte lange Risse und ließ einen gemusterten Barchentunterrock sehen.
»Warum hat er Euch geschlagen?« fragte Studer.
Ein Seufzer. Die Nägel der linken Hand kratzten auf der Decke, sonst war kein Geräusch zu hören, denn die Straße unten war still. Dann antwortete die Frau mit einer Frage:
»Geht's Euch etwas an, wenn der Mann mich schlägt?« Sie lachte kurz und schrill.
»Helfen Euch die Kinder nicht, Mutter?« fragte der Wachtmeister. Das Wort ›Mutter‹ brachte Leben in die Liegende. Sie sprang auf, setzte die Füße auf den Boden, schwankte zuerst ein wenig, als sie sich vom Bettrand abstieß, und ging dann sicher durchs Zimmer. Der Schalter knallte leise; dann blendete das Licht der Lampe, obwohl die Birne in einem blauen Kreppapier steckte.
»Die Kinder!« sagte die Frau und grub die Finger in ihr kurzgeschnittenes Haar. »Die Kinder!« wiederholte sie. »Ich habe eine Tochter gehabt – aber die ist gestorben. Ich hab zwei Söhne gehabt – aber der eine ist verschwunden und der andere will seine Mutter nicht mehr kennen, weil er seinen Vater haßt… Ja, ja…« Sie seufzte. »Er will seine Mamma nicht mehr kennen – er besucht lieber eine andere Mutter, die im gleichen Hause wohnt. Unten, dort unten…« Sie wies mit dem Zeigerfinger auf den Boden. »Dort hockt er stundenlang – aber bei mir bleibt er nur fünf Minuten…«
»Der Ernst?« fragte Studer.
»So? Hat er Ernst geheißen?« Ein Lächeln ließ den Mund noch größer scheinen, und die beiden Zähne packten die Unterlippe. »Jaja. Der eine hat Ernst geheißen und der andere Ludwig. Ernst Äbi der eine, Ludwig Farny der andere. Ich habe gehört, daß beide in Pfründisberg sind. Der eine in der Gartenbauschule, der andere im Armenhaus. Stimmt das, Herr… Herr…«
»Studer!«
»Richtig… Stimmt das, Herr Studer? Oder ist der Ludwig noch im Thurgau?«
Der Wachtmeister überlegte: spielte die Frau Theater oder war sie wirklich krank? Vielleicht hatte sie Fieber, denn sie sah nicht gesund aus. Mager war ihr Gesicht, und rote Flecken glänzten über den Backenknochen. Sie begann zu husten, ging keuchend zum Nachttischli, zog die Schublade auf und kramte unter den darinliegenden Gegenständen. Plötzlich schrie sie auf.
»Was ist los?« fragte Studer.
»Nichts… oh… nichts!« Sie wurde bleich; einzig die winzigen roten Flecken über den Backenknochen blieben farbig.
»Vielleicht… ich… ich… weiß nicht. Der Doktor hat mir Medizin verschrieben und die ist fort. Vielleicht hat sie der Noldi mitgenommen… Aber wozu hat er sie wohl gebraucht, der Noldi?«
Es klang merkwürdig; wie konnte die Frau ihrem betrunkenen Manne, der sie grausam verprügelt hatte, einen zärtlichen Kosenamen geben? Er hieß Arnold – und sie nannte ihn noch immer Noldi…
»Was war es denn?«
»Ein Beruhigungsmittel…«, sagte die Frau. »Täfeli… Weiße Täfeli… Oder vielleicht hat die Frau Wottli die Medizin genommen? Ich hab' ihr einmal davon gegeben, vor einer Woche – und das hat ihr geholfen. Sie konnte schlafen, nachher. Und heut morgen hat sie mich besucht. Vielleicht…«
Studer zog seine Uhr. Sechs Uhr! Er mußte sich beeilen, wenn er heut abend noch in Pfründisberg sein wollte. Darum verabschiedete er sich von der kranken Frau, versprach, bald wieder zu kommen, und fragte, ob er nicht Frau Wottli heraufschicken solle. »Damit Ihr nicht so allein seid, wenn es Euch schlecht geht. Und«, fügte der Wachtmeister fragend hinzu, »Soll ich vielleicht in eine Apotheke gehen und Euch das Mittel holen, das Euch der Doktor verschrieben hat? Habt Ihr das Rezept noch?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Das gehe nicht, meinte sie. Das Rezept habe der Apotheker behalten. Es sei ein Betäubungsmittel.
Betäubungsmittel? Studer pfiff leise. Schade, daß man nicht wußte, was der Arzt der Kranken verschrieben hatte. Es war zu spät, heute abend dem Arzte anzuläuten. Gewiß, man konnte schnell noch ins Amtshaus fahren und dort die nötigen Anweisungen geben. Aber Studer hatte keine Lust, dies zu tun. Wenn in einer Sache alles noch verworren war, so vermied er lieber, Kollegen zur Hilfe beizuziehen. Das
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