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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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der Mann wieder getrunken. Jetzt prügle er seine Frau.
    »Äbi?« fragte der Wachtmeister. »Haben die Leute etwa Kinder?« – »Ja.«
    » En Sohn und e Tochter…« Die Tochter habe geheiratet und eine glänzende Partie gemacht, der Mann sei ein höherer Staatsangestellter – aber was habe es der Anna genützt? Nichts! Sie sei vor kurzer Zeit gestorben. Der Sohn tauge nicht viel; als Handlanger habe er sein Leben vertrödelt und erst jetzt, mit fast dreißig Jahren, sei es ihm gelungen, in Pfründisberg einzutreten… Nur weil ein reicher Onkel aus dem Ausland ihm geholfen habe…
    »Und der Vater?«
    – Seit einem Monat habe ihm die Fürsorge eine Aushilfsstelle in einer Kohlenhandlung verschafft… Dort verdiene er einen Franken Stundenlohn…
    »Nid viel…«, meinte Studer.
    Nei, nei. Aber er mache oft blau, der Arnold Äbi, und nicht nur am Montag. Sicher habe er seine Arbeit heute schon um drei Uhr verlassen, um trinken zu gehen. »Ja, er ist ein anderer Mann als mein Paul. Mein Sohn trinkt nicht.«
    Der Wachtmeister blickte die alte Frau fest an. Rechts neben ihrer Nase tanzte ein Leberfleck auf und ab, wie ein brauner Angelkorken auf fließendem Wasser. Immer deutlicher sah Studer das Bild des Lehrers Wottli – und die Tatsache, daß der Mann ein »Wissenschaftler« war, gab den letzten Tupfen. Der Wachtmeister hatte in seinem Leben viele Menschen kennengelernt, die ihr Wissen aus Büchern – meistens aus einem Konversationslexikon – erlernt hatten (›Autodidakten‹ nannte man sie), und gewöhnlich trugen diese Leute ihre Überzeugung wie einen unsichtbaren Helm auf dem Kopf. Sie wußten in allem und jedem Bescheid – aber jeder ihrer Gedanken war falsch. Sie glaubten sich allwissend, sie waren stolz – und oft, nur allzuoft trieb sie dieser Stolz auf einen falschen Weg. Glücklich waren sie selten… Gehörte der Lehrer auch zu diesen Leuten? Einmal schon hatte er fünftausend Franken geerbt – hoffte er diesmal auf eine größere Summe? Der Wachtmeister seufzte, weil sein friedlicher Sinn sich nicht gerne mit nutzlosen Streitigkeiten abgab – und solche Streitigkeiten standen ihm bevor; bei der ersten Unterredung mit dem Gartenbaulehrer würden sie erscheinen… Über seinem Kopfe weinte die Frau lauter, Klatschen war zu hören.
    Und Jakob Studer nahm Abschied. Aber es gelang ihm trotzdem nicht, den Arnold Äbi kennenzulernen. Als er im Stiegenhaus stand, hörte er das Haustor unten ins Schloß fallen und im oberen Stockwerk ein Stöhnen. Leise schlich er die Treppen hinauf – von Frau Wottli hatte er nichts zu fürchten, denn sie war ins Wohnzimmer zurückgegangen. Vor der angelehnten Türe lag der Körper einer Frau; die Haare, die wirr vom Kopfe abstanden, waren kurz geschnitten und von fettiggrauer Farbe. Sie trug ein schwarzes Baumwollkleid… eine blaue Schürze… Die Füße steckten in braunen Halbschuhen, und die Absätze trommelten auf die roten Fliesen. Über dem verschmierten Klingelknopf am Türpfosten war mit einem Reißnagel ein Visitenkärtlein befestigt:
    Arnold Äbi
Maurermeister
    Studer bückte sich, schob seine Arme unter den zitternden Körper, richtete sich auf und trat in die Wohnung. Ein Gang – kein Teppich auf dem staubigen Parkett… Ein Zimmer – sauber, mit wenig Möbeln. Über dem Ehebett lag eine braune Decke, darauf legte er die Frau, die leise stöhnte. Sie war mindestens sechzig Jahre alt, die Stirn war hoch. Zwischen den halbgeschlossenen Lidern schimmerte die Hornhaut weiß. Die Lippen öffneten sich und ließen zwei Zähne sehen, die breit und lang und gelb waren – wie Roßzähne. Ein Stöhnen zuerst: »Aa–oo–aah!« Nun öffneten sich die Lider ganz, braun und glanzlos war die Iris, wie die Decke, auf welcher der Körper lag. »Wasser!« stöhnte die Frau. Studer trat auf den Gang, schloß zuerst die Wohnungstüre und ging dann in die Küche. Hier war der Boden mit Tellerscherben besät, an der Mauer lag ein Stuhl, der beide Vorderbeine gebrochen hatte; der Tisch war mit Papierfetzen, schmutzigen Gabeln und Löffeln bedeckt. An seinem Rand war ein Schraubstock befestigt, Studer berührte ihn – da blieben Eisenspäne an seinen Fingern kleben…
    Ein Schraubstock… Eisenspäne… Was war hier gefeilt worden?
    Der Wachtmeister spülte ein Glas, füllte es und kehrte dann ins Zimmer zurück. Die Frau streckte ihre Hand aus, trank das Wasser und ließ sich wieder zurückfallen.
    »Wer seid Ihr?« fragte sie. Studer nannte seinen Namen.
    »Was wollt

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