Der Chinese
ihm auf die Schulter. »Geh mir schnell etwas in der Wirtschaft holen. Willst? Spring!« Ludwig verstand – er sollte Murmann und Reinhard suchen…
… und seine Fortsetzung
Die beiden Blätter steckten in Studers Brusttasche. Er folgte dem Hausvater und kehrte zu den Tafelnden zurück. Es roch nach Braten und fad nach Härdöpfelstock, den Salat hatte die Gartenbauschule gestiftet. Die Rotweingläser waren leer – nur die des Wachtmeisters und seines Schützlings noch voll – und das Mädchen ging herum mit einer langhalsigen Flasche und schenkte Weißwein aus. Diesmal stieß der Hausvater nur mit seinem Nachbarn an, dem Polizeihauptmann, beide nahmen einen Schluck aus ihrem Glas, ließen die Flüssigkeit schmatzend auf der Zunge zergehen…
»Neuenstädter, 28er«, sagte der Hauptmann; der Hausvater nickte geschmeichelt. – Ja, der Herr Direktor sei eben ein Weinkenner…
Studer war es, als erlebe er einen Traum. Zuviel neue Eindrücke waren einander gefolgt, zuviel neue Atmosphären hatte er kennengelernt. Er sah die Männer, die hier aßen, und zu gleicher Zeit erblickte er den Äbi Ernst, der tot im Gewächshaus der Gartenbauschule lag.
Wie ein Traum…
In jenem Gewächshaus hatte eine Orchidee geblüht – und, merkwürdig, diese Blume sah der Wachtmeister plötzlich ganz deutlich: wie ein menschliches Gesicht war sie geformt, nein! wie eine Maske eher – und auch das war nicht richtig. Einem wächsernen Kopf ähnelte sie – und auch das war falsch. Sie glich dem Gesichte des toten ›Chinesen‹, denn sie hatte einen Hintergrund, der aus Erde und Moos bestand – und auch auf Moos und Erde war der Kopf des ›Chinesen‹ gelegen…
Vater Äbi fragte giftig:
»Und? Wo habt Ihr Euren Schützling gelassen, Wachtmeister Studer?« Eine grobe Antwort brannte Studer auf der Zunge, aber er unterdrückte sie und antwortete gelassen:
»Er hat eine Kommission für mich machen müssen…«
Er streckte die Hand aus, so, als wolle er sein Weinglas packen, fuhr mit der Hand zurück – das Glas zerschellte auf dem Boden. Wortreich entschuldigte er sich: – Es tue ihm leid! So ungeschickt zu sein…! Als er aufblickte, sah er, daß Hungerlotts Stirnhaut gefurcht war. Der Hausvater trank sein Glas leer, winkte das Stubenmädchen herbei, ließ es sich füllen, leerte es zum zweiten Male… Auf Vater Äbis Stirne standen Schweißtropfen…
Der schwerhörige Fürsorgebeamte stand auf, wischte sich die Lippen, räusperte sich und begann eine Rede. In ihr lobte er die gute Administration der Armenanstalt, kondolierte dem Hausvater zu dem schweren Verlust, den er erlitten habe… Aber da sehe man es wieder: Ein Mann bleibe ein Mann und lasse sich vom Schicksal nicht bodigen. Nach wie vor erfülle der Hausvater seinen schweren Dienst, bringe die Zöglinge dazu, nützliche Arbeit zu tun, verwandle verpfuschte Existenzen in Arbeitskräfte, die der Gesellschaft dienten, kurz: Ein solcher Mann könne der jüngeren Generation als Beispiel vorgehalten werden: durch Pflichterfüllung zeige er, wie man persönlichen Schmerz unterdrücken könne. Darum schlage er vor, den verdienten Hausvater hochleben zu lassen. Er habe geschlossen.
Stühlerücken… Das Stubenmeitschi füllte die Gläser mit Schaffiser. Die Herren umdrängten Hungerlott, stießen mit ihm an, lobten, kondolierten… Ihre Zungen waren ein wenig schwer und die Haut ihrer Gesichter bläulich.
»Wir trinken einen Kaffee im Arbeitszimmer«, sagte Hungerlott. »Ich zeige den Herren den Weg.« Und ging voraus.
Studer war es ungemütlich zumute… Wenn Murmann und der vife Reinhard gerade diesen Augenblick benützt hatten, um das Zimmer zu durchsuchen, so war ein Skandal fällig. Darum blieb der Wachtmeister zurück und wartete, bis Hungerlott die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet hatte. Als er nichts Verdächtiges hörte, schloß er sich mit Ludwig dem letzten an.
Die große Kaffeemaschine war an der elektrischen Leitung angeschlossen, der braune Saft brodelte unter dem Glasdeckel – endlich zog der Hausvater den Steckkontakt heraus – das Brodeln beruhigte sich, die Tassen wurden gefüllt. Bei jedem der Herren fragte Hungerlott: »Kirsch? Rum? Zwetschgenwasser?« Bald waren auch alle die kleinen Gläser voll, die neben den Kaffeetassen standen; einige der Herren kippten sie, andere saugten in kleinen Schlucken die scharfe Flüssigkeit, Zigarren wurden in Brand gesteckt, Stumpen. Nur Ludwig rauchte eine Zigarette, und Studer, dem nichts angeboten
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