Der Chinese
neuem an. Ein Mann mit kurzgeschnittenem Haar, intensiven Augen, zusammengepressten Lippen. Schnelle Bewegungen, wachsam. Vielleicht älter, als sie zunächst geglaubt hatte.
Sture Hermansson kam zurück. »Es sieht aus, als hätten wir recht«, sagte er. »Zwei russische Damen haben sich unter ihren wie gewöhnlich falschen Namen eingeschrieben. Dann kommt dieser Mann, Herr Wang Minhao aus Peking.«
»Gibt es eine Möglichkeit, diesen Film zu kopieren?« Sture Hermansson zuckte mit den Schultern. »Sie können ihn haben. Was soll ich damit? Ich habe diese Kamera nur für mich installiert. Jedes halbe Jahr überspiele ich die Kassetten. Diese schenke ich Ihnen.«
Er steckte die Kassette in den Schuber und reichte sie ihr. Sie gingen gemeinsam ins Treppenhaus. Natascha putzte die Gläser der Lampen, die den Hoteleingang beleuchteten. Sture Hermansson kniff Birgitta Roslin freundschaftlich in den Arm. »Jetzt können Sie mir vielleicht erzählen, warum Sie so an diesem Chinesen interessiert sind? Schuldet er Ihnen Geld?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Alle schulden allen etwas. Wenn man sich nach Menschen erkundigt, ist meistens Geld im Spiel.«
»Ich glaube, dieser Mann kann auf einige Fragen Antwort geben«, sagte Birgitta Roslin. »Mehr kann ich leider nicht sagen.«
»Und Sie sind keine Polizistin?«
»Nein.«
»Aber Sie sind auch nicht aus der Gegend?«
»Richtig. Ich bin Birgitta Roslin aus Helsingborg. Wenn er wieder auftauchen sollte, wäre es nett, wenn Sie mich anrufen.« Birgitta Roslin schrieb Adresse und Telefonnummer für Sture Hermansson auf und verabschiedete sich. Als sie auf die Straße hinauskam, merkte sie, dass sie zu schwitzen begonnen hatte. Die Augen des chinesischen Mannes verfolgten sie. Sie steckte die Kassette in die Tasche und blickte sich unschlüssig um. Was sollte sie jetzt tun? Sie sollte eigentlich auf dem Heimweg nach Helsingborg sein. Es war schon später Nachmittag. Sie ging in die nahe gelegene Kirche. Im kühlen Kircheninneren setzte sie sich auf eine der vordersten Bänke. Vor einer der dicken Wände kniete ein Mann und reparierte eine Gipsfuge. Sie versuchte, ganz klar zu denken. In Hesjövallen hatte man ein rotes Band gefunden. Im Schnee. Durch einen Zufall hatte sie es in ein Chinarestaurant zurückverfolgen können. Ein Chinese hatte am Abend des 12. Januar dort gegessen. In der Nacht oder am frühen Morgen waren dann neunzehn Menschen in Hesjövallen gestorben.
Sie dachte an das Bild auf Sture Hermanssons Videoband. War es vorstellbar, dass ein Mann allein diese Tat begangen hatte? Oder hatte es mehrere Beteiligte gegeben, von denen sie noch nichts wusste? War das rote Band vielleicht aus einem völlig anderen Grund da draußen im Schnee gelandet? Sie nahm die Broschüre, die im Papierkorb gelegen hatte, aus der Tasche. Auch dies ließ sie daran zweifeln, dass es einen Zusammenhang gab zwischen Wang Minhao und dem, was in Hesjövallen geschehen war. Würde ein verschlagener Täter so deutliche Spuren hinterlassen?
Das Licht in der Kirche war schlecht. Sie setzte die Brille auf und blätterte die Broschüre durch. Auf einer Innenseite waren das Bild eines Wolkenkratzers in Peking und chinesische Schriftzeichen. Auf anderen Seiten waren Zahlenreihen und Bilder von lächelnden chinesischen Männern abgedruckt. Am meisten interessierten sie die chinesischen Zeichen, die mit Tinte auf die Rückseite der Broschüre geschrieben worden waren. Hier kam Wang Minhao ihr näher. Wahrscheinlich hatte er sie geschrieben. Um sich etwas zu merken? Oder aus einem anderen Grund?
Wer konnte ihr helfen, die Zeichen zu lesen? Im selben Moment, in dem sie sich die Frage stellte, wusste sie auch schon die Antwort. Plötzlich kam ihr die eigene rote Vergangenheit wieder ins Bewusstsein. Sie verließ die Kirche und ging mit ihrem Handy auf den Friedhof. Karin Wiman, eine ihrer Freundinnen aus der Studienzeit in Lund, war Sinologin geworden und arbeitete an der Universität in Kopenhagen. Sie meldete sich nicht, aber Birgitta hinterließ ihr eine Nachricht, in der sie Karin bat zurückzurufen. Dann kehrte sie zu ihrem Wagen zurück, fuhr zu einem großen Hotel im Stadtzentrum und nahm ein Zimmer. Es war geräumig und lag in der obersten Etage. Sie schaltete den Fernseher ein und sah im Teletext, dass über Nacht Schnee fallen sollte. Sie legte sich aufs Bett und wartete. In einem Nachbarzimmer hörte sie einen Mann lachen.
Sie erwachte
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