Der Chinese
dessen Ton sie abgeschaltet hatte. Der Plan war schwer zu lesen, es war eine schlechte Kopie. Sie suchte nach der Verbotenen Stadt und dem Platz des Himmlischen Friedens. Dabei wurden viele Erinnerungen wach.
Birgitta Roslin legte den Plan zur Seite und dachte an ihre Töchter und an die Zeit, als sie selbst in deren Alter gewesen war. Von einigen der Menschen, die mir einmal viel bedeutet haben, fallen mir heute nicht einmal mehr die Gesichter ein. Andere, die weniger wichtig waren, sind heute deutlich. Alles ist ständig in Bewegung, Erinnerungen kommen und gehen, werden stärker und schwächen sich ab, verlieren oder gewinnen an Bedeutung.
Aber ich komme nie darum herum, dass jene Jahre die entscheidenden in meinem Leben waren. Mitten in meinem privaten Chaos glaubte ich fest daran, dass der Weg zu einer besseren Welt über Solidarität und Befreiung führte. Das Gefühl, mitten in der Welt zu sein, mitten in einer Zeit, in der es möglich war, alles zu verändern, habe ich nie vergessen. Aber ich habe nicht entsprechend gelebt. In meinen schlimmsten Momenten habe ich mich als Verräterin gefühlt. Nicht zuletzt gegenüber meiner Mutter, die mich angespornt hat, aufrührerisch zu sein. Mein politischer Wille war eigentlich nie etwas anderes als eine Art Firnis über dem Dasein. Glanzlack über Birgitta Roslin. Nur in meinem Bestreben, eine anständige Richterin zu sein, bin ich wirklich in die Tiefe gegangen. Das kann mir niemand nehmen.
Sie trank ihren Tee und plante den folgenden Tag. Sie würde erneut an die Tür des Polizeipräsidiums klopfen und dort ihre Entdeckungen mitteilen. Diesmal würden sie nicht umhinkönnen, ihr zuzuhören. Sie waren mit der Ermittlung noch kaum vorangekommen. Als sie im Hotel eingecheckt hatte, waren ihr ein paar Deutsche aufgefallen, die sich im Foyer über die Ereignisse von Hesjövallen unterhalten hatten. Es war auch außerhalb Schwedens eine Nachricht. Ein Schandfleck auf dem unschuldigen Schweden. Massenmord gehört nicht hierher, dachte sie. So etwas geschieht in den USA oder gelegentlich in Russland. Es können sadistische Verrückte sein oder Terroristen. Aber nicht hier, in einem friedlichen und entlegenen schwedischen Dorf in den Wäldern.
Sie versuchte nachzufühlen, ob ihr Blutdruck gesunken war. Sie glaubte es. Es würde sie wundern, wenn der Arzt ihr nicht erlaubte, wieder zu arbeiten.
Birgitta Roslin versuchte sich zu erinnern, welche Fälle auf sie warteten, und fragte sich gleichzeitig, wie die Prozesse liefen, die ihren Kollegen zugeteilt worden waren. Plötzlich überkam sie das Gefühl, es eilig zu haben. Sie wollte nach Hause, wollte zu ihrem gewohnten Leben zurückkehren, auch wenn es in mancher Hinsicht leer und sogar langweilig war. Dort im Halbdunkel des Hotelzimmers beschloss sie, ein ordentliches Fest zu Staffans Geburtstag zu organisieren. Sie pflegten sich wenig Mühe zu geben, was die Feiertage des anderen betraf. Vielleicht war es an der Zeit, das zu ändern?
Als Birgitta Roslin am nächsten Tag zum Polizeipräsidium ging, hatte es aufgehört zu schneien. Die Temperatur war gefallen. Das Thermometer vor dem Hotel zeigte sieben Grad minus. Auf den Bürgersteigen war noch kein Schnee geräumt. Sie ging sehr vorsichtig, um nicht zu fallen. In der Anmeldung des Polizeipräsidiums war es ruhig. Ein Polizist stand vor einer Anschlagtafel und las. Die Frau in der Telefonvermittlung starrte ins Leere. Man konnte den Eindruck bekommen, dass Hesjövallen mit all seinen Toten nur ein böser Traum war, ein erfundenes Phänomen, das im Begriff war, sich aufzulösen und zu verschwinden.
Das Telefon klingelte. Birgitta Roslin trat an die Schalterluke und wartete, bis das Gespräch weitergeschaltet wor den war.
»Ich möchte Vivi Sundberg sprechen.«
»Sie ist in einer Besprechung.«
»Erik Hudden?«
»Ist auch in der Besprechung.«
»Sind alle bei der Besprechung?«
»Alle. Außer mir. Wenn es sehr wichtig ist, kann ich eine Nachricht hineingeben. Aber es kann sein, dass Sie trotzdem lange warten müssen.«
Birgitta Roslin überlegte. Natürlich war das, was sie zu berichten hatte, wichtig, wenn nicht gar entscheidend. »Wie lange dauert die Besprechung?«
»Das weiß man nie. Bei allem, was passiert ist, kann sie den ganzen Tag lang andauern.«
Die Frau in der Anmeldung ließ den Polizisten, der an der Anschlagtafel gelesen hatte, hinein.
»Ich glaube, es ist etwas passiert«,
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