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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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an den Wegrand.«
     
    »Ist das dein Ernst?« 
    »Natürlich. Aber ich weiß nicht, ob meine Knie es durchhalten.«
     
    »Wenn man zu schwer trägt, kann man sich eine Fersenbeinentzündung holen. Ein guter Freund von mir hat es bekommen. Ture, der Tierarzt. Er hat sich ziemlich gequält.« 
    »Wir sollten Pilger werden«, sagte sie. »Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich schlafen. Und du auch.«
     
    Am Tag danach rief sie ihren Arzt an und vergewisserte sich, dass es bei dem zweiten Besuch fünf Tage später blieb. Dann räumte sie das Haus auf und warf nur einen Blick auf die Plastiktüte mit den Tagebüchern. Sie telefonierte mit ihren Kindern und verabredete mit ihnen, an Staffans Geburtstag ein Überraschungsfest zu organisieren. Alle fanden die Idee gut, und sie rief bei ihren Freunden an und lud sie ein. Zwischendurch hörte sie die Nachrichten mit Neuigkeiten aus Hudiksvall. Aber es drang wenig Information aus dem belagerten Polizeipräsidium nach draußen.
     
    Erst am späten Nachmittag setzte sie sich an ihren Schreibtisch und holte widerwillig die Tagebücher heraus. Jetzt, da ein Mann wegen der Morde in Untersuchungshaft saß, fühlte sie, dass ihre eigenen provisorischen Theorien an Bedeutung verloren hatten. Sie blätterte zu der Seite vor, auf der sie aufgehört hatte zu lesen.
     
    Das Telefon klingelte. Es war Karin Wiman. »Ich wollte nur hören, ob du gut nach Hause gekommen bist.«
     
    »Die Wälder in Schweden sind endlos. Komisch, dass den Menschen, die dort in der Dunkelheit leben, keine Nadeln wachsen. Ich fürchte mich vor Tannen. Sie deprimieren mich.«
     
    »Und Laubbäume?«
     
    »Damit geht es mir besser. Aber offenes Ackerland, Meer und Horizont, das ist es, wonach mir im Moment der Sinn steht.«
     
    »Komm her. Fahr über die Brücke. Dein Anruf hat Erinnerungen wachgerufen. Man wird älter, plötzlich kommen einem die alten Freunde vor wie Kleinodien, die man bewahren muss. Ich habe von meiner Mutter ein paar schöne Glasvasen geerbt. Kostbarkeiten aus Orrefors. Aber was bedeuten sie, verglichen mit Freunden?«
     
    Birgitta Roslin fand die Idee verlockend. Auch sie hatte über das Telefongespräch mit Karin Wiman nachgedacht. »Wann hast du denn Zeit? Ich bin noch krankgeschrieben, schlechte Blutwerte, hoher Blutdruck.«
     
    »Heute nicht. Aber vielleicht morgen.«
     
    »Unterrichtest du nicht?«
     
    »Ich widme mich mehr und mehr meiner Forschung. Ich mag meine Studenten, aber sie gehen mir auf den Geist. Sie interessieren sich nur für China, weil sie glauben, sie könnten dort reich werden. China ist das Klondyke unserer Tage. Nur wenige suchen vertiefte Kenntnisse über das riesige Reich der Mitte mit seiner unvorstellbar dramatischen Vergangenheit. «
     
    Birgitta dachte an das Tagebuch, das vor ihr lag. Auch dort fand sich ein Klondyke zwischen den Zeilen. »Du kannst bei mir wohnen«, fuhr Karin Wiman fort. »Meine Söhne sind fast nie zu Hause.«
     
    »Aber dein Mann?«
     
    »Mein Mann ist doch tot.«
     
    Birgitta Roslin wollte sich auf die Zunge beißen. Das hatte sie vergessen. Karin Wiman war seit fast zehn Jahren Witwe. Ihren Mann, den schönen Jüngling aus Aarhus, der Arzt geworden war, hatte eine galoppierende Leukämie dahingerafft.
     
    »Ich schäme mich. Verzeih mir.«
     
    »Ist schon gut. Kommst du?«
     
    »Morgen. Ich will mit dir über China reden. Das alte und das neue.«
     
    Sie schrieb die Adresse auf, verabredete eine Uhrzeit und fühlte, dass sie sich freute, Karin zu treffen. Sie waren einmal sehr enge Vertraute gewesen, doch dann hatten sich ihre Wege getrennt, ihr Kontakt war spärlicher, ihre Telefongespräche waren immer seltener geworden. Birgitta Roslin war bei Karin Wimans Promotion zugegen gewesen und hatte auch ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Kopenhagen beigewohnt. Aber Karin hatte nie in einem Gerichtssaal gesessen, wenn Birgitta Roslin den Vorsitz führte.
     
    Ihre Vergesslichkeit ließ sie erschrecken. Woher kam diese Zerstreutheit? All die Jahre als Richterin, die ständige Konzentration auf Plädoyers und Zeugenaussagen, hatten ihre Aufmerksamkeit trainiert. Und jetzt erinnerte sie sich nicht einmal daran, dass Karins Mann seit zehn Jahren tot war. Sie schüttelte das ungute Gefühl ab und begann in dem aufgeschlagenen Tagebuch zu lesen. Langsam ließ sie das winterliche Wetter in Helsingborg hinter sich und betrat die Wüste von Nevada, wo Männer mit dunklen Schlapphüten oder mit um die Köpfe gebundenen

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