Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
dass etwas geschehen sein musste, was mit Hesjövallen zu tun hatte. Ein Reporter interviewte einen Kriminologen, der beredt war, aber ernst. Birgitta versuchte zu verstehen, was passiert war.
     
    Nach dem Kriminologen kam ein Bericht aus dem Libanon. Sie fluchte und schaltete um auf Teletext, wo sie sofort las, was geschehen war.
     
    Lars-Erik Valfridsson hatte sich das Leben genommen. Obwohl er alle Viertelstunde kontrolliert wurde, hatte die Zeit ihm gereicht, ein Hemd in Streifen zu reißen, eine Schlinge zu fabrizieren und sich aufzuhängen.
     
    Alle Wiederbelebungsversuche waren vergeblich gewesen. Birgitta Roslin schaltete den Fernseher aus. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Hatte er es nicht ausgehalten, mit der Schuld zu leben? Oder war er geisteskrank?
     
    Irgendetwas stimmt da nicht, dachte sie. Er kann nicht all die Morde begangen haben. Warum er sich umgebracht hat, warum er gesteht und der Polizei den Weg zu einem vergrabenen Samuraischwert zeigt, weiß ich nicht. Aber im Innersten habe ich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass hier etwas nicht stimmt.
     
    Sie setzte sich in ihren Lesesessel, ohne Licht zu machen. Der Raum lag im Halbdunkel. Auf der Straße ging jemand vorbei und lachte. Dies war ihr spezieller Denksessel. Hier saß sie, wenn sie über ein Urteil nachgrübelte oder wenn ihr ein Prozessdetail Kopfschmerzen bereitete. Hier saß sie auch, wenn sie das Bedürfnis hatte, ihren eigenen Alltag oder den der Familie zu überdenken.
     
    Sie kehrte noch einmal zum Ausgangspunkt zurück. Zu den ersten Beobachtungen, die sie gemacht hatte, als ihr aufgefallen war, dass es zwischen ihr und all den Toten in jener Januarnacht eine vage Verbindung gab.
     
    Es war zu groß, dachte sie. Nicht dass ein zielbewusster Mann es nicht allein durchführen könnte. Aber ein Mann, der in Hälsingland lebt und nur ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung hat? Er gesteht etwas, was er nicht begangen hat. Dann zeigt er der Polizei eine selbstgeschmiedete Waffe und erhängt sich in seiner Zelle. Natürlich kann ich mich irren. Aber etwas stimmt hier nicht. Seine Festnahme verlief viel zu glatt. Und was für eine Rache konnte das sein, die er als Motiv nannte?
     
    Als sie sich aus ihrem Sessel erhob, war es schon nach Mitternacht. Sie überlegte, ob sie Staffan anrufen sollte. Aber vielleicht schlief er schon. Sie ging ins Bett und löschte das Licht. In Gedanken wanderte sie noch einmal durchs Dorf. Ständig kam sie auf das rote Band zurück, das im Schnee gefunden worden war, und auf das Bild des Chinesen in der selbstgebastelten Überwachungskamera.
     
    Die Polizei weiß etwas, was ich nicht weiß. Sie weiß, warum Lars-Erik Valfridsson gefasst wurde und was ein denkbares Motiv gewesen sein könnte. Aber sie machen einen Fehler, der nur zu leicht gemacht wird. Sie legen sich auf eine einzige Ermittlungsspur fest.
     
    Sie konnte nicht einschlafen. Als sie sich nicht länger im Bett hin und her wälzen wollte, stand sie auf, zog den Morgenrock an und ging wieder ins Erdgeschoss. An ihrem Schreibtisch schrieb sie eine Zusammenfassung aller Ereignisse, die sie mit Hesjövallen verband.
     
    Es dauerte fast drei Stunden, eine detaillierte Übersicht alles dessen zu erstellen, was sie wusste und was sie selbst erlebt und entdeckt hatte.
     
    Während sie daran schrieb, befiel sie das immer stärker werdende Gefühl, etwas übersehen zu haben, einen Zusammenhang nicht zu erkennen. Es kam ihr vor, als wäre ihr Stift eine Bodenfräse im Gelände und sie wäre gezwungen, auf ein Rehkitz zu achten, das sich vielleicht dort verbarg. Als sie schließlich den Rücken streckte und die Arme über den Kopf hob, war es vier Uhr am Morgen geworden. Sie nahm ihre Aufzeichnungen mit zum Denksessel, machte Licht und las von Anfang an. Dabei versuchte sie, zwischen ihre Worte zu sehen, oder vielleicht eher hinter sie, ob es Steine gab, die sie nicht umgedreht hatte, übersehene Winkel, die sie nicht entdeckt hatte. Aber es fiel ihr nichts Unerwartetes auf, kein Zusammenhang, den sie früher hätte erkennen sollen.
     
    Sie war eben kein Kriminalist, der es gewohnt war, nach Lücken in Zeugenaussagen oder Vernehmungsprotokollen von Verdachtspersonen zu suchen. Aber sie hatte Erfahrung darin, nach Widersprüchen und logischen Fallen zu suchen, und unzählige Male hatte sie bei Gerichtsverhandlungen eingegriffen und Fragen an den Angeklagten gestellt, die der Staatsanwalt ihrer Ansicht nach zu stellen versäumt hatte.

Weitere Kostenlose Bücher