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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Aber hier fand sich nichts, was sie veranlasst hätte, plötzlich innezuhalten. Vielleicht wurde es ihr nur umso klarer, dass dies nicht die Tat eines Wahnsinnigen sein konnte. Diese Tat war zu gut organisiert, zu kaltblütig, als dass ein anderer für die Ausführung in Frage kommen konnte als ein vollkommen ruhiger und eiskalter Mörder.
     
    Möglicherweise, notierte sie am Rand, könnte man sich fragen, ob der Täter nicht vorher am Tatort gewesen sein muss. Es war dunkel in der Nacht, er konnte eine starke Taschenlampe gehabt haben. Aber einige der Türen waren verschlossen gewesen. Er muss über exakte Kenntnisse verfügt haben, wer wo wohnte, und vermutlich hatte er auch Schlüssel. Er muss ein sehr starkes Motiv gehabt haben, was dazu beitrug, dass er keinen Moment zögerte.
     
    Mit diesem Fazit saß sie am Ende da, als es auf fünf Uhr zuging und ihr die Augen zufielen. Es bestand keinerlei Zweifel, dachte sie. Der Mann, der es getan hat, wusste, was ihn erwartete, und er zauderte keine Sekunde. Er war sogar in der Lage, eine unerwartete Situation zu bewältigen, nämlich die, dass plötzlich ein Junge im Weg war. Er ist kein zufällig auftauchender Gewalttäter, er ist kaltblütig auf ein ganz bestimmtes Ziel aus.
     
    Keinerlei Zögern, dachte sie. Und der Wille, Schmerzen zuzufügen. Er wollte, dass die sterbenden Menschen begriffen, was mit ihnen geschah. Außer einem. Einem kleinen Jungen. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Hatte der Täter den Menschen, über die er sein Schwert oder seinen Säbel erhoben hatte, sein Gesicht gezeigt? Kannten sie ihn? Wollte er, dass sie ihn sahen?
     
    Das ist eine Frage, die Vivi Sundberg beantworten muss, dachte sie. War Licht in den Zimmern, in denen die Ermordeten lagen? Hatten sie dem Tod ins Gesicht gesehen, bevor das Beil fiel?
     
    Sie legte ihre Aufzeichnungen zur Seite. Auf dem Thermometer vor dem Fenster sah sie, dass die Temperatur auf minus acht Grad gefallen war. Sie trank ein Glas Wasser und ging ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen wurde sie noch einmal an die Oberfläche gezogen. Sie hatte etwas übersehen. Zwei der Toten waren zusammengebunden gewesen. Woher kannte sie das? Sie setzte sich im Bett auf und war plötzlich wieder hellwach. Irgendwo war sie auf eine ähnliche Beschreibung gestoßen.
     
    Dann fiel es ihr ein. Die Tagebücher. In einem Abschnitt, den sie nur überflogen hatte, stand etwas Ähnliches. Sie ging nach unten, legte alle Tagebücher auf den Tisch und begann zu suchen. Sie fand fast sofort die Stelle.
     
    318 Es ist das Jahr 1865. Die Eisenbahnstrecke windet sich nach Osten, jede Schwelle, jeder Meter Schiene eine Qual. Krankheiten befallen die Arbeiter. Sie sterben wie Insekten. Aber der Zustrom neuer Arbeitskräfte aus dem Westen rettet das gigantische Projekt und bewahrt es vor einem finanziellen Kollaps. Bei einer Gelegenheit, genauer gesagt am 9. November, hört JA etwas von einem chinesischen Sklavenschiff, das von Kanton aus auf dem Weg ist. Es ist ein altes Segelschiff, das ausschließlich für den Transport gekidnappter Chinesen nach Kalifornien benutzt wird. Als während einer langen Flaute Wasser und Verpflegung zur Neige gehen, kommt es an Bord zum Aufruhr. Um den Aufruhr zu ersticken, greift der Kapitän zu Methoden, die an Grausamkeit nahezu beispiellos sind. Selbst JA, der nicht zögert, Fäuste und Peitsche zu gebrauchen, findet das, was er hört, empörend. Der Kapitän nimmt einige der getöteten Aufrührer und bindet sie mit noch lebenden zusammen. Dann liegen sie zusammengebunden an Deck, der eine langsam verhungernd, der andere verfaulend. JA schreibt in seinem Tagebuch, dass er die »Methode maßlos« findet.
     
    Konnte man dies vergleichen? War der eine gezwungen worden, an den Körper eines Toten gefesselt dazuliegen? Eine Stunde, vielleicht weniger, vielleicht mehr? Bevor der endgültige Hieb ihn oder sie traf?
     
    Das habe ich übersehen, dachte sie. Die Frage ist nur, ob die Polizei in Hudiksvall es auch übersehen hat. Jedenfalls bezweifle ich, dass sie die Tagebücher so genau gelesen haben, bevor ich sie ausgeliehen bekam.
     
    Doch man konnte auch eine andere Überlegung anstellen, wenn sie auch äußerst unwahrscheinlich erschien. Wusste der Täter etwas von den in JAs Tagebuch beschriebenen Ereignissen? Existierte hier ein sonderbarer Zusammenhang über Zeit und Raum hinweg?
     
    Man konnte sich auch fragen, warum Vivi Sundberg ihr die Tagebücher gegeben hatte. Hoffte sie, dass Birgitta sie lesen

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