Der Chinese
war. Er glaubte an Mao, wie man an Gott glaubt. Vielleicht ist er trotz allem in seinen politischen Ansichten vernünftig geworden. Er blühte ein paar Monate lang und richtete bei vielen Menschen, die von gutem Willen getragen wurden, heftige Verwirrung an.«
»Ich hatte immer solche Angst. Dass ich nicht taugte, dass ich nicht genügend wusste, dass ich undurchdachte Ansichten vertrat, dass ich zur Selbstkritik gezwungen würde.« »Es ging uns allen so. Vielleicht nicht dem Spanier, weil er ja fehlerfrei war. Er war Gottes Abgesandter auf Erden mit Maos kleinem Roten in der Hand.«
»Du hast immerhin mehr verstanden als ich. Du wurdest ja dann vernünftig und tratst in die Linkspartei ein, die trotz allem mit den Füßen auf dem Boden stand.«
»Ganz so einfach war es nicht. Ich lernte da einen anderen Katechismus kennen. Es herrschte dort immer noch die Ansicht vor, die Sowjetunion sei eine Art gesellschaftliches Ideal. Es dauerte gar nicht lange, bis ich mich fremd fühlte.«
»Dennoch war es besser, als sich ganz zurückzuziehen. Wie ich es tat.«
»Wir haben uns voneinander entfernt. Warum, weiß ich nicht.«
»Wir hatten wohl nichts, worüber wir reden konnten. Uns war die Luft ausgegangen. Ich fühlte mich ein paar Jahre wie eine leere Hülle.«
Karin hob die Hand. »Lass uns jetzt nicht anfangen, uns selbst zu verachten. Unsere Vergangenheit ist trotz allem die einzige Vergangenheit, die wir haben. Nicht alles, was wir getan haben, war schlecht.«
Sie aßen eine Reihe kleiner chinesischer Speisen und beendeten ihre Mahlzeit mit Tee.
Birgitta zog die Broschüre mit den handgeschriebenen Zeichen hervor, die Karin vor einiger Zeit als den Namen des Krankenhauses Longfu gedeutet hatte. »Ich werde den Nachmittag damit verbringen, dies Krankenhaus zu besuchen«, sagte sie.
»Warum?«
»Es ist immer gut, ein Ziel zu haben, wenn man durch eine fremde Stadt streift. Eigentlich ist es egal, was es ist. Wenn man planlos herumläuft, werden die Füße müde. Ich habe niemanden, den ich besuchen kann, nichts, was ich eigentlich sehen will. Aber vielleicht finde ich ein Schild, auf dem diese Zeichen stehen. Dann kann ich zurückkommen und dir sagen, dass du recht hattest.«
Sie trennten sich vor den Aufzügen. Karin hatte es eilig, wieder zu ihrer Konferenz zu kommen. Birgitta hielt bei ihrem Zimmer im neunzehnten Stock und legte sich aufs Bett, um auszuruhen.
Sie hatte schon während des Spaziergangs am Vormittag eine Unruhe verspürt, die sie nicht ganz zu meistern vermochte. Umgeben von allen diesen Menschen, die sich auf den Straßen drängten, oder allein in diesem anonymen Hotel in der Riesenstadt Peking kam es ihr vor, als geriete ihre Identität in Auflösung. Wer würde sie vermissen, wenn sie verschwände? Wer würde sie überhaupt bemerken? Wie konnte ein Mensch leben, wenn er sich austauschbar fühlte?
Sie hatte ähnliche Empfindungen schon früher erlebt, als sie noch sehr jung war. Plötzlich aufzuhören, der eigenen Identität nicht mehr sicher zu sein.
Ungeduldig erhob sie sich vom Bett und stellte sich ans Fenster. Tief dort unten die Stadt, die Menschen, alle mit ihren Träumen, die ihr unbekannt waren.
Sie raffte mit einer einzigen Bewegung Jacke, Schal und Handschuhe zusammen und schlug die Tür hinter sich zu. Sie steigerte nur sich selbst in eine Angst hinein, die noch schwerer zu beherrschen war. Sie musste sich bewegen, die Stadt erleben. Für den Abend hatte Karin versprochen, sie in eine Vorstellung der Pekingoper mitzunehmen.
Auf dem Stadtplan hatte sie gesehen, dass es ein langer Weg bis Longfu war. Doch sie hatte Zeit, niemand verlangte nach ihrer Anwesenheit. Sie lief die geraden, scheinbar endlosen Straßen entlang und kam schließlich zum Krankenhaus, nachdem sie an einem großen Kunstmuseum vorbeigegangen war.
Longfu bestand aus zwei Gebäuden. Sie zählte sieben Stockwerke, alle in Weiß und Grau. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert. Die Vorhänge vor den Fenstern waren heruntergelassen, darunter hingen alte Blumenkästen mit vertrocknetem Laub. Die Bäume vor dem Krankenhaus waren kahl, Hundehaufen lagen auf den ausgetrockneten Rasenflächen. Ihr erster Eindruck war, dass Longfu mehr einem Gefängnis als einem Krankenhaus glich. Sie ging in den Park. Ein Krankenwagen fuhr vorbei, unmittelbar danach ein zweiter.
Beim Haupteingang fand sie die chinesischen Zeichen an einer Säule. Sie
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