Der Chinese
ihre Befreiung kämpfen. Das ist unsere internationale Pflicht.
MAO TSE-TUNG
Birgitta Roslin brauchte über eine Stunde, um zum Platz des Himmlischen Friedens zu kommen. Es war der größte Platz, auf dem sie je gestanden hatte. Sie gelangte durch eine Unterführung unter dem Jiangnomennei Dajie zum Platz, auf dem es von Menschen wimmelte. Überall waren fotografierende und flaggenschwenkende Menschen, Wasser-und Postkartenverkäufer.
Sie blieb stehen und sah sich um. Der Himmel war diesig. Es fehlte etwas. Es dauerte eine Weile, bis sie darauf kam, was es war.
Keine Vögel. Oder Tauben. Es gab überhaupt keine. Aber überall wimmelte es von Menschen, die nicht merken würden, ob sie dort stand oder plötzlich fort wäre.
Sie erinnerte sich an die Bilder von 1989, als die Studenten ihre Forderungen nach größerer Gedanken- und Redefreiheit vorgebracht hatten, und an die Auflösung, als am Ende die Panzer auf den Platz gerollt waren und zahlreiche Demonstranten massakriert wurden. Hier stand damals ein Mann mit einer weißen Plastiktüte in der Hand, dachte sie. Die ganze Welt sah ihn auf den Fernsehschirmen und hielt den Atem an. Er hatte sich vor einen dieser Panzer gestellt und weigerte sich, Platz zu machen. Wie ein kleiner Zinnsoldat fasste er all den Widerstand zusammen, den ein Mensch zu leisten imstande ist. Als die Panzer versuchten, an ihm vorbeizufahren, ging er zur Seite. Was schließlich passiert war, wusste sie nicht. Das Bild hatte sie nicht gesehen. Aber all jene, die von den Raupenketten zerquetscht oder von den Soldaten erschossen wurden, waren wirkliche Menschen gewesen.
In ihrem Verhältnis zu China waren diese Ereignisse der zweite Ausgangspunkt. Zwischen der Rebellin, die in Mao Tse-tungs Namen die absurde Ansicht vertreten hatte, die Revolution habe bereits im Frühjahr 1968 unter den Studenten in Schweden begonnen, und dem Bild des jungen Mannes vor dem Panzer war ein großer Teil ihres Lebens eingebettet. Er umfasste einen Zeitraum von gut zwanzig Jahren, in dem sie den Weg von einer sehr jungen und idealistischen Frau zur Mutter von vier Kindern und Richterin zurückgelegt hatte. Der Gedanke an China war ihr immer präsent gewesen. Zuerst als ein Traum, danach als etwas, von dem sie sich eingestand, dass sie es überhaupt nicht begriff, weil es so groß und widersprüchlich war. Bei ihren Kindern fand sie ein gänzlich anderes China-Verständnis. Da spielten die großen Zukunftsmöglichkeiten eine Rolle, so wie ihre eigene und die Generation ihrer Eltern durch den Traum von Amerika geprägt worden waren. David hatte kürzlich zu ihrer Verblüffung erzählt, dass er, wenn er Kinder bekäme, versuchen würde, ein chinesisches Kindermädchen zu finden, damit sie von Anfang an Chinesisch lernten.
Sie ging auf dem Tiananmen umher, sah die Menschen, die einander fotografierten, und die Polizisten, die überall anwesend waren. Im Hintergrund das Gebäude, in dem Mao 1949 die Volksrepublik ausgerufen hatte. Als sie zu frieren begann, ging sie den langen Weg zum Hotel zurück. Karin hatte versprochen, auf eins der offiziellen Mittagessen zu verzichten und stattdessen mit ihr zu essen.
Es gab ein Restaurant im obersten Geschoss des Wolkenkratzers, in dem sie wohnten. Sie bekamen einen Fenstertisch und blickten über die gewaltige Stadt. Birgitta erzählte von ihrem Spaziergang zu dem großen Platz und erwähnte einen Teil dessen, was sie gedacht hatte.
»Wie konnten wir nur glauben, was wir geglaubt haben?«
»Was meinst du genau?«
»Dass Schweden praktisch am Rande eines Bürgerkriegs stünde, der zur Revolution führen würde.«
»Man glaubt, wenn man zu wenig weiß. Das war bei uns der Fall. Und außerdem wurden uns Lügen aufgetischt von denen, die uns getäuscht haben. Kannst du dich an den Spanier erinnern?«
Birgitta erinnerte sich sehr gut. Einer der Anführer der Rebellenbewegung war ein charismatischer Spanier gewesen, der selbst 1967 in China die Rotgardisten hatte marschieren sehen. Gegen seine Augenzeugenberichte und gegen seine verzerrte Einstellung zur revolutionären Situation in Schweden hatte eigentlich niemand zu argumentieren gewagt. »Was ist aus ihm geworden?«
Karin Wiman schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Als die Bewegung zerfiel, verschwand er. Einem Gerücht zufolge soll er WC-Verkäufer in Teneriffa geworden sein. Vielleicht ist er tot. Vielleicht wurde er religiös, was er genaugenommen schon damals
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