Der Chinese
Eigentlich taten sie das auch für sie nicht, dachte sie. Es war eine unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen, die sie in die Ecke gedrängt hatte, in der sie sich jetzt befand. Ihre Maschine landete mit einer Stunde Verspätung, und auf dem Flugplatz herrschte Chaos, weil es, wie sie nach und nach mitbekam, eine Terrorwarnung wegen eines herrenlosen Koffers in einer der Abflughallen gegeben hatte. Erst am späten Nachmittag war sie in der Stadt und nahm sich ein Zimmer in einem Hotel der mittleren Preisklasse in einer Seitenstraße der Tottenham Court Road. Nachdem sie sich im Zimmer eingerichtet und das zugige Fenster mit einem Pullover abgedichtet hatte, legte sie sich erschöpft aufs Bett. Sie war im Flugzeug für ein paar Minuten eingenickt, war aber sogleich von einem Kind wieder geweckt worden. Das Kind hatte nicht aufgehört zu schreien, bis die Räder der Maschine auf der Landebahn von Heathrow aufsetzten. Die viel zu junge Mutter war schließlich über ihr schreiendes Kind selbst in Tränen ausgebrochen.
Sie erwachte mit einem Ruck und hatte drei Stunden geschlafen. Es war schon dämmerig. Sie hatte vorgehabt, noch am selben Tag Ho an ihrer Adresse in Chinatown aufzusuchen, beschloss aber jetzt, damit bis zum folgenden Tag zu warten. Sie machte einen kurzen Spaziergang hinunter zum Piccadilly Circus und ging in ein Restaurant. Plötzlich trat eine große chinesische Touristengruppe durch die Glastüren ins Lokal. Sie betrachtete die Gruppe mit einem Gefühl aufkommender Panik, doch sie beruhigte sich wieder. Nach dem Essen kehrte sie ins Hotel zurück und setzte sich mit einer Tasse Tee in die Bar. Als sie ihren Schlüssel holte, sah sie, dass der Nachtportier Chinese war. Sie fragte sich, ob es erst seit kurzem überall in Europa Chinesen gab oder ob es eine Entwicklung war, die sie früher nur nicht beachtet hatte.
Sie überdachte wieder und wieder das Geschehene, die Rückkehr des Mannes ins Hotel Eden und Sture Hermanssons Tod. Sie war versucht, Vivi Sundberg anzurufen, um mehr zu erfahren, unterließ es aber. Wenn das Gästebuch verschwunden war, würde auch eine Fotografie aus der improvisierten Überwachungskamera auf die Polizei kaum Eindruck machen. Vielleicht würde der Mord von der Polizei sogar als Unfall aufgefasst, so dass ein Anruf erst recht sinnlos war. Stattdessen rief sie im Hotel an. Niemand meldete sich. Es gab nicht einmal einen Anrufbeantworter, der mitgeteilt hätte, dass das Hotel vorübergehend geschlossen war. Nicht nur für die Saison, sondern wahrscheinlich für immer. Ohne sich von der Furcht befreien zu können, die von ihr Besitz ergriffen hatte, verbarrikadierte sie die Tür mit einem Stuhl und kontrollierte sorgfältig die Verriegelung der Fenster. Sie ging ins Bett, zappte eine Weile zwischen den Fernsehsendern hin und her, merkte aber, dass sie eher ein Segelboot vor Augen hatte, das über das Meer vor Madeira glitt, als das, was auf dem Bildschirm vorüberflimmerte. Irgendwann in der Nacht erwachte sie davon, dass der Fernseher immer noch an war, jetzt lief ein alter Schwarzweißfilm mit James Cagney als Gangster. Sie machte die Lampe aus, die ihr ins Gesicht leuchtete, und versuchte, wieder in den Schlaf zu finden, jedoch vergeblich. Den Rest der Nacht lag sie wach.
Es nieselte draußen vor dem Fenster, als sie aufstand und Kaffee trank, ohne etwas zu essen. Sie ging in die Stadt, nachdem sie sich in der Rezeption von einer jungen Frau mit asiatischem Aussehen, aus Thailand oder von den Philippinen, einen Regenschirm ausgeliehen hatte. Sie ging zum Leicester Square und suchte von dort den Weg nach Chinatown. Die meisten Restaurants waren noch geschlossen. Hans Mattsson, der auf der Jagd nach Restaurants, die ihm neue Geschmackserlebnisse bieten konnten, neugierig in der Welt herumreiste, hatte einmal gesagt, die beste Art und Weise, die echten Restaurants zu finden, seien es chinesische, iranische oder italienische, sei es, nach solchen zu suchen, die auch am Vormittag geöffnet waren. Sie bedienten nicht nur Touristen und waren deshalb vorzuziehen. Sie merkte sich einige von denen, die geöffnet waren, und begab sich zu Hos Adresse. Im Erdgeschoss lag ein Restaurant, es gehörte zu den geschlossenen. Das Haus war aus dunkelroten Ziegelsteinen erbaut und lag zwischen zwei namenlosen Gassen. Sie beschloss, an der Glocke der Tür zu läuten, die zu den Wohnungen führte.
Aber etwas ließ sie zögern und den Finger zurückziehen. Sie ging in ein
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