Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
liegt, bis er im Meer versenkt wird.«
     
    Elgstrand und Lodin trugen die eingenähte Leiche in ihre Kajüte und ließen San dort allein. San nahm ein Messer, das auf dem kleinen Tisch lag, und öffnete behutsam das zugenähte Segel. Er trennte Guo Sis linken Fuß ab. Er vermied es sorgfältig, Blut auf den Fußboden tropfen zu lassen, wickelte einen Stofffetzen um den Stumpf des Beines und verbarg den Fuß dann unter einem anderen Stück Stoff in seinem Hemd. Dann flickte er das Segeltuch wieder zusammen.
     
    Ich hatte zwei Brüder, dachte er. Und ich sollte mich um sie kümmern. Das Einzige, was ich noch habe, ist ein Fuß. Der Kapitän und die Besatzung versammelten sich an der Reling. Das Segeltuch mit Guo Sis Körper wurde auf ein Brett gehoben, das auf Böcken lag. Der Kapitän nahm seine Mütze ab. Er las aus einer Bibel vor und stimmte dann einen Psalm an. Elgstrand und Lodin sangen mit klaren Stimmen. Als der Kapitän den Seeleuten ein Zeichen geben wollte, das Brett über die Reling zu schieben, hob Elgstrand die Hand. »Dieser einfache chinesische Mann namens Wang Guo Si hat seine Erlösung gefunden, bevor er starb. Auch wenn sein Körper bald auf dem Weg zum Meeresgrund sein wird, ist seine Seele frei und bereits über unseren Köpfen. Lasst uns zu dem Gott beten, der die Toten sieht und ihre Seelen befreit. Amen.«
     
    Als der Kapitän nun das Zeichen gab, schloss San die Augen. In weiter Ferne hörte er das Klatschen, als der Körper auf das Wasser aufschlug.
     
    San kehrte an den Platz zurück, an dem die Brüder auf dieser Reise geschlafen hatten. Er konnte nicht verstehen, dass Guo Si tot war. Gerade als er geglaubt hatte, seine Lebenskraft sei größer geworden, nicht zuletzt dank der Begegnung mit den beiden Missionaren, war er plötzlich einer unbekannten Krankheit erlegen.
     
    Trauer, dachte San. Trauer und Entsetzen über das, was ihm das Leben gebracht hat, das hat ihn am Ende getötet. Nicht der Husten, nicht das Fieber oder der Frost.
     
    Elgstrand und Lodin wollten ihn trösten. Aber San sagte, er müsse jetzt allein sein.
     
    In der Nacht nach der Bestattung begann San mit der blutigen Arbeit, Haut, Sehnen und Muskeln von Guo Sis Fuß zu entfernen. Er hatte kein anderes Werkzeug als einen rostigen Eisenbolzen, den er an Deck gefunden hatte. Er arbeitete nur im Dunkeln, damit keiner ihn sah. Die Fleischreste warf er über Bord. Als die Knochen sauber waren, rieb er sie mit einem Lappen ab und legte sie in seinen Kleidersack. Auch in der folgenden Woche verbrachte er seine Zeit allein. Manchmal dachte er, das Beste, was er tun könne, sei, sich im Schutz der Dunkelheit über die Reling gleiten zu lassen und im Meer zu versinken. Aber er musste die Knochen seines toten Bruders nach Hause bringen.
     
    Als er seine Lektionen mit den Missionaren wieder aufnahm, dachte er viel daran, was sie Guo Si bedeutet hatten. Er war nicht schreiend gestorben, sondern ruhig. Elgstrand und Lodin hatten ihm den Mut zum Sterben gegeben.
     
    Während des letzten Teils der Reise - über Java, wo das Schiff wieder bunkerte, und dann auf der Strecke nach Kanton - fragte San oft nach dem Gott, der die Sterbenden trösten konnte und allen ein Paradies versprach, einerlei, ob Arm oder Reich.
     
    Aber die entscheidende Frage war doch, warum Gott Guo Si hatte sterben lassen, jetzt, da sie nach all den Entbehrungen endlich auf dem Weg nach Hause waren. Weder Elgstrand noch Lodin konnte ihm eine überzeugende Antwort geben. Die Wege des christlichen Gottes seien unergründlich. Was bedeutete das? Dass das Leben nichts anderes war als ein Warten auf das, was danach kam? Dass der Glaube eigentlich ein Rätsel war?
     
    Je näher sie Kanton kamen, desto grüblerischer wurde San. Nie würde er vergessen, was er durchgemacht hatte. Jetzt wollte er schreiben lernen, um aufzuzeichnen, was ihm und seinen toten Brüdern widerfahren war, seit jenem Morgen, als er seine Eltern an einem Baum hängend vorgefunden hatte.
     
    Einige Tage bevor die chinesische Küste in Sicht kommen sollte, setzten sich Elgstrand und Lodin an Deck neben ihn. »Wir fragen uns, was du tun wirst, wenn du nach Kanton kommst«, sagte Lodin.
     
    San schüttelte den Kopf. Er wusste keine Antwort. »Wir wollen dich ungern verlieren«, sagte Elgstrand. »Wir sind uns auf dieser Reise nahegekommen, und wir verdanken dir unsere verbesserten Kenntnisse der chinesischen Sprache. Wir bieten dir an, mit uns zu kommen. Du wirst einen Lohn erhalten und bei uns

Weitere Kostenlose Bücher