Der Chirurg von Campodios
sein musste. »Ich hatte damals, du musst wissen, ich war schon Anfang zwanzig, also, ich hatte damals …«
»Da hattste was mit Mädchen, nich? Is ja klar.« Abermals ergriff sie seine Hand und ließ sie nicht los.
»Ja, du hast Recht. Und es war jedes Mal ganz seltsam, äh … nicht, was du jetzt vielleicht denkst, es war hinterher ganz seltsam, hinterher, verstehst du? Da verspürte ich so ein leeres Gefühl, ein Gefühl großer Enttäuschung, denn unter Liebe hatte ich mir immer etwas Größeres, Schöneres vorgestellt.«
»Ja, ’s kennich.«
»Was, du auch? Ach ja, natürlich.« Ihm fiel ein, dass sie früher ein Straßenmädchen gewesen war.
»Un was hattste dir denn nu Größeres, Schöneres vorgestellt?«
»Das wusste ich eben selbst nicht genau. Ich hatte nur immer das Gefühl, auf der Suche zu sein. Gleichzeitig kam mir das Leben um mich herum zunehmend oberflächlich vor: die Jagd nach Geld und Gut, das Gieren nach Ämtern und Pfründen – ich merkte, wie ich mich innerlich davon entfernte. Ja, wie ich alles das verabscheute. Dann eines Tages, ich war mittlerweile wieder in Erfurt, geschah es ganz plötzlich. Es war an einem Sonntagnachmittag, und ich befand mich in der Nähe der Severikirche, jener Kirche, die ich aus Kindheitstagen kannte. Die Tür des Gotteshauses stand weit offen, und eine innere Stimme sagte mir: Geh hinein!«
»Un? Biste rein?«
»Ja. Ich betrat die Kirche und stellte fest, dass kein Mensch außer mir darin war. Der große, heilige Raum wirkte auf mich kleiner und völlig anders, als ich ihn aus Jugendtagen in Erinnerung hatte. Ich ging durch das Gestühl nach vorn und betete ein Ave-Maria. Dann blickte ich auf zu Jesus Christus, unseren gekreuzigten Herrn, und ich spürte zum ersten Mal etwas von dieser Größe und Schönheit, nach der ich mich immer gesehnt hatte.«
»Un dann biste ins Kloster?«
»Oh, nein, so schnell ging es beileibe nicht. Doch ich merkte, wie es mich immer öfter in die Kirche zog. Zu den unmöglichsten Zeiten, denn am liebsten war es mir, wenn ich allein mit Gott dem Herrn war und Zwiesprache mit ihm halten konnte. Und immer, wenn ich ihm gegenüberstand, war da dieses nie gekannte Gefühl der Zufriedenheit und Wärme. Ein Gefühl jenseits alles Bösen in dieser Welt.«
»’s klingt schön. So ’n Gefühl hattich noch nie nich.«
»Ich glaube, jeder kann dieses Gefühl erleben, wenn er nur wirklich glauben will. Aber das bedeutet nicht nur, Gott zu suchen, man muss ihn auch finden wollen.«
»Un du hast ’n inner Kirche gefunden, nich?«
»So kann man es sagen. Als ich mir meiner Sache ganz sicher war, bin ich dann zu den Augustinern gegangen, um dort ein Noviziat anzutreten.«
»Un dann biste Priester geworden.«
»So ungefähr.« Er spürte ihre Wärme an seiner Seite und den Druck ihrer Hand. Ein Schauer durchrieselte seinen Körper. Er wollte von ihr abrücken, aber er brachte es nicht fertig. Sein Geist war willig, aber sein Fleisch war schwach.
»Bist der nettste Priester, den ich kenn«, sagte sie noch einmal.
wohl noch Februar A. D. 78
Unser Gesundheitszustand verschlechtert sich. Wir sind kraftlos, bewegen uns nur noch, wenn es unbedingt nötig ist, und sehnen uns trotzdem danach, einmal zwanzig Schritte aufrecht gehen zu können. Zwanzig Schritte auf guter, ebener, englischer Erde! Die Enge des Schiffs ist unerträglich.
Bei höherem Wellengang treten in letzter Zeit bei einigen von uns Gleichgewichtsstörungen auf. Ist es die Seekrankheit? Oder ist es nur Schwäche?
Der Magister und der Zwerg leiden unter Geschwüren, die ich mit dem Messer mehr schlecht als recht aufstach. Seit zwei Tagen fiel kein Regen mehr. Erneut einen Kraken, diesmal sehr viel größer, gefangen. Wir waren zu schwach, ihn an Bord zu ziehen. Hewitt kappte die Langleine. Unsere Aussichten, nun ohne Haken Fische zu fangen, sind gering. Das Schiff macht Wasser und verlangt unsere ständige Aufmerksamkeit. Einzig das Wetter ist uns gewogen, Wind und Wellen zeigen sich immer gleich. Bruder Ambrosius und Miss Phyllis machen noch den zufriedensten Eindruck. Er bringt ihr weiter Latein bei.
»Stern, meine Tochter, heißt auf Lateinisch
stella
.«
»’s weissich doch, Vater,
stella
, ’s haste mir doch schon gesacht.« Phyllis kuschelte sich an Ambrosius und blickte neben ihm in den Nachthimmel.
»Ach, wirklich?« Der Mönch wollte etwas abrücken, unterließ es dann aber. Es hatte keinen Zweck, Phyllis rückte einfach nach, so, als bemerke sie gar
Weitere Kostenlose Bücher