Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
sich vor ihnen auf und spritzten von den Kanten ihrer Kämme eiskalte Schaumfladen herüber.
    »Spannt die Stage nach!«, schrie Vitus. »Wenn der Mast über Bord geht, ist alles zu spät.«
    Sie gehorchten, so schnell es ging.
    »Verkeilt das Schapp im Heck nochmals, und stellt Jack, den Hahn, unter die Spritzabdeckung im Bug. Und jeder knotet dem anderen eine Leine um den Leib, die er an der nächsten Ruderbank sichert. Wer über Bord geht und fortgerissen wird, ist des Todes!«
    Auch diese Maßnahme wurde sofort ergriffen.
    Die
Albatross
schien mittlerweile ein Eigenleben entwickelt zu haben. Sie stampfte und schlingerte und war schwer unter Kontrolle zu halten. Haushohe Brecher wogten jetzt aus Nordwest heran, begleitet von orkanartigem Wind, der Gischt und Salzwasser waagerecht heranpeitschte und die Menschen im Boot völlig durchnässte. Jeder klammerte sich an irgendetwas fest, versuchte, die Augen vor dem brennenden Salzwasser zu schützen, und flehte seinen Herrgott an, er möge diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen.
    Hewitt saß an der Pinne und versuchte mit aller Kraft, das Schiff mit dem Bug in die herankommenden Wogen zu zwingen, denn er wusste: Eine einzige Quersee konnte das Boot zum Kentern bringen oder, kaum weniger schlimm, es bis zum Rand voll schlagen. Auch so machte der Schiffsleib immer mehr Wasser, und die Mannschaft stand schon bis zu den Knien darin.
    »Schöpft, um Gottes willen, schöpft!«, schrie Vitus gegen den Sturm an. »Schöpft, bevor wir alle ersaufen!«
    Jeder, der irgendeines Behältnisses habhaft werden konnte, ergriff es und schaufelte wie von Sinnen Wasser über Bord. Die Todesangst verlieh ihnen neue Kräfte.
    Nach bangen Minuten, der Sturm hatte sich zu einem rasenden Orkan ausgeweitet, war der Leib der
Albatross
wieder halbwegs leer. Die Mannschaft atmete auf. Doch die See, die bis vor kurzem nur gerollt hatte, hatte den Grad ihrer Gewalt noch einmal gesteigert: Sie kochte mittlerweile wie ein brodelnder Kessel. Der Orkanwind riss mit Riesenfäusten am Mast, an den Stagen, an allem, was sich ihm als Hindernis entgegenstellte; er packte die
Albatross
, stieß sie in abgrundtiefe Wellentäler, hob sie Augenblicke später wieder turmhoch empor, schlug sie, rammte sie, beutelte sie mit schier unerschöpflicher Kraft.
    Hewitt an der Pinne hatte Verstärkung bekommen. Allein war er nicht mehr in der Lage gewesen, das Ruderblatt gegen die Urgewalten zu stemmen. Vitus saß jetzt neben ihm. Gemeinsam versuchten sie, die Pinne zu halten, doch es war fast unmöglich. Die
Albatross
bockte wie ein Gaul, der den Reiter abwerfen will.
    War die Mannschaft überhaupt noch komplett? Vitus spähte nach vorn. Gischt und Wasserschleier nahmen ihm die Sicht. Kaum erkannte er vor sich unter der Ruderbank den Magister und den Zwerg, zwei gekrümmte Ballen menschlichen Lebens, lächerlich klein, schutzlos, hilflos im Tosen der brüllenden Gewalten. Im Bug unter der Spritzabdeckung, die ihren Namen in keiner Weise mehr verdiente, entdeckte er Phoebe als hellen Fleck, und mittschiffs, an Backbord, beugte der lange Körper des Mönchs sich schützend über Phyllis.
    Wieder rollte eine Woge heran, hoch wie ein Felsmassiv, und wollte sich auf die
Albatross
stürzen. Das Boot glitt tapfer empor, weiter und weiter, bis zur halben Kammhöhe hinauf, aber dann schlugen die Wassermassen erbarmungslos zu. Die
Albatross
wurde bis in ihre Grundverbände erschüttert, sie taumelte schwer, sackte weg und schien gänzlich verschwunden. Doch dann, unendlich langsam, kam sie wieder hoch – stetig und hartnäckig, obwohl sie abermals nahezu voll geschlagen war. Jeder, der etwas von Schiffbau verstand, hätte in diesem Augenblick gesagt, dass sie sich hervorragend hielt und sich als wahres Tochterboot der braven
Gallant
erwies.
    »Schöpft!«, schrie Vitus. »Schöpft um euer Leben!« Doch niemand war in der Lage, ihn zu verstehen. Nicht einmal Hewitt, der direkt neben ihm saß. Gottlob war es nicht notwendig, denn dem Magister und Enano sowie dem Rest der Mannschaft blieb ohnehin nichts anderes übrig, wollten sie nicht wie die Ratten ertrinken.
    Jetzt öffnete und schloss sich der Mund Ambrosius’. Er rief verzweifelt irgendetwas zu ihnen herüber, während seine langen Arme an einem Seil zerrten, das zur See hinauslief. Phyllis! Phyllis hing an dem Seil und trieb davon! Vitus wollte hoch, doch Hewitt hielt ihn zurück. Es hatte keinen Zweck, helfen zu wollen. Das Führen der Pinne, wenn man von einem solchen

Weitere Kostenlose Bücher