Der Chirurg von Campodios
Augen blickten ihn an. »Ich hab gesacht, ich kann auch ›Ja, ja, kein Gran‹ un ›Ja, ja, viel zu schade‹ un ›Ja, ja, ’n verdammich schlechtes Zeichen‹ sagen.«
»In der Tat, meine Definition mit dem Adjektiv war nicht ganz präzise, äh … du hast Recht, natürlich hast du Recht!«, freute sich der Mönch. »Weißt du denn immer genau, was du am Tag so alles gesagt hast?«
»Immer. Un auch, wassich gestern gesacht hab un vorgestern un die Woche davor. Kann mich immer erinnern, an alles.«
Ambrosius staunte. Wenn das stimmte, hatte er es hier mit einer geistigen Leistung zu tun, die mehr als ungewöhnlich war. Andererseits gab Phyllis höchstens ein halbes Dutzend Male am Tag ihren Halbsatz von sich.
»Weißte noch den Tach, Vater, alswer das Boot umgedreht haben, wo der Zwerg drunter war? Da hat Phoebe sich gefreut, un der Zwerg hat blöd gegrinst un gesacht: ›Wui, wo dein Toches jetzt is, war vorhin meine Fratz, Frau Beischläferin‹, un da hat Phoebe gesacht: ›Du Giftspritze! Hab dir schon hundertmal gesacht, ich binne Dame un keine Beischl …‹, un das letzte Wort hattse verschluckt un gesacht ›Ich un Phyllis sin Damen! Nich, Phyllis?‹, un weißte, wassich da gesacht hab?«
»Nun, äh …« Ambrosius konnte sich noch lebhaft an die Situation erinnern, aber keinesfalls an die wörtliche Rede der Beteiligten. »Was hast du denn gesagt?«
»›Ja, ja, Damen‹, hab ich gesacht, un der Magister hat gesacht ›Streitet Euch nicht, Verehrteste, der Zwerg meint es nicht so. Wollt Ihr noch etwas von dem Schinken? Ich gebe ihn Euch gerne, auch wenn ich warnend den Finger heben muss: Er ist salzig, und wir haben kein Trinkwasser, jedenfalls heute Abend noch nicht‹, ja, ja, genau so hatters gesacht. Ich behalt eben alles, alles behalt ich.«
Ambrosius verschlug es den Atem. Die junge Frau mit den blauen Augen schien nicht nur über ein unglaubliches Gedächtnis zu verfügen, sie war auch in der Lage, die Stimme der Sprechenden verblüffend echt nachzumachen. Eine Begabung, die ihm in dieser Form noch nie begegnet war. Wie spielend leicht musste Phyllis das Erlernen der lateinischen Sprache fallen, wenn man sie nur förderte! Er musste an sein Heimatkloster im Thüringer Land denken, wo so mancher Lateinschüler trotz ständigen Paukens kaum in der Lage gewesen war, seinen Cäsar zu übersetzen. Aber so ging es häufig im Leben: Wer das Glück hatte, an Bildung heranzukommen, war beschränkt, und wer die Gabe hatte, sie zu erwerben, kam nicht an sie heran. Bildung war den Reichen vorbehalten. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich entschieden, seine Bildung weiterzugeben. Und seinen Glauben.
Ambrosius’ Blick schweifte über das Meer, und ihm kam eine Idee. »Weißt du, was ›Meer‹ auf Lateinisch heißt?«, fragte er, um sogleich, da sie es natürlich nicht wissen konnte, selbst die Antwort zu geben:
»Mare.«
»Mare«
, wiederholte Phyllis.
»Ganz recht,
mare
. Wasser heißt übrigens
aqua
und Welle
unda
.«
»Aqua, unda.«
Er wies auf die
Albatross
. »Schiff heißt
navis
, Mast
malus
und Ruder
remus
.«
Phyllis sprach die Wörter fehlerfrei nach.
Ambrosius entschloss sich, ein Experiment zu machen. »Achte genau auf mich«, sagte er. »Ich nenne dir jetzt viele Wörter auf einmal, mal sehen, ob du sie alle auf Anhieb behältst.« Er deutete auf das Segel:
»Velum.«
Dann auf eine Harpune:
»Hasta.«
Auf ein Fass:
»Cupa.«
Auf ein Seil:
»Funis.«
Auf den Suppeneimer:
»Hama.«
Auf die Suppe:
»Ius.«
Auf das Brennholz:
»Ligna.«
Auf die Glut:
»Ardor.«
Auf den Hahn:
»Gallus.«
Auf den Käfig:
»Cavea.«
Er verschnaufte. »Hast du mir gut zugehört?«
Phyllis nickte.
»Schön.« Ambrosius wollte es noch schwerer machen. Er deutete auf seine Stirn:
»Frons.«
Auf sein Ohr:
»Auris.«
Auf sein Auge:
»Oculus.«
Auf die Nase:
»Nasus.«
Auf den Mund:
»Os.«
Dann blickte er Phyllis erwartungsvoll an. »Meinst du, dass du alles behalten hast?«
»Denk schon, wenn ’s nich mehr is.«
»Nein, das soll fürs Erste genügen. Ich nenne dir jetzt ein lateinisches Wort, und du sagst mir, was es bedeutet.«
»Is recht.«
»Cupa.«
»Fass.« Die Antwort kam schnell und sicher.
»Malus.«
»Mast.«
Er fragte in bunter Reihenfolge weiter, und jedes Mal wusste Phyllis die Antwort. Sie irrte sich nie und zögerte kein einziges Mal.
Dann drehte er das Ganze um, indem er auf die Gegenstände deutete und nach dem lateinischen Ausdruck fragte. Phyllis blieb fehlerlos wie
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